Vermächtnis des Schweigens (German Edition)
fixiert, der ihre Füße beschnupperte.
„Das ist Truman“, erklärte Jonathan ihr. „Er ist eine Bulldogge. Wir haben ihn erst letzte Woche bekommen.“
„Beißt er mich?“, fragte sie, und ihre dünne Stimme klang erstaunlich rau.
„Nein“, versicherte Claire ihr. „Er ist ein guter Hund. Willst du ihn mal streicheln?“
Ella presste die Lippen aufeinander und schloss die Augen, als würde sie scharf nachdenken. Dann blickte sie auf, schaute Claire an und atmete tief durch, um ihren ganzen Mut zusammenzunehmen.
„Er beißt nicht“, versprach Jonathan und hob Truman auf das Kissen neben ihr. „Er sabbert dich vielleicht ein wenig an, aber er beißt nicht.“
Zögerlich streckte Ella eine pummelige kleine Hand aus und fuhr damit schnell über Trumans Kopf. Sie kicherte. Dann machte sie es noch ein paar Mal – ein schnelles Streicheln, gefolgt voneinem Lachen –, bis Jonathan und Claire in ihr Lachen einfielen. Truman schaute sie alle abwechselnd mit einem Ausdruck im Gesicht an, der sie wissen ließ, dass er sie lediglich tolerierte. Zwanzig Minuten später war Ella eingeschlafen, das Gesicht an Trumans Hals gekuschelt. Jonathan und Claire saßen einfach nur da, beobachteten sie und schlossen sie augenblicklich ins Herz.
Es dauerte nicht lange, bis Claire die kleine Ella als ihre Tochter betrachtete. Sie wusste, dass diese Gedanken gefährlich waren. Wusste, dass sie kein Recht hatte, Ella ihr Kind zu nennen. Aber sie liebte das kleine Mädchen. Liebte es, als wenn sie es selbst neun Monate lang ausgetragen hätte. Ella war das schönste Kind, das sie je gesehen hatte. Diese großen braunen Augen, die in der einen Minute schalkhaft aufblitzen und sich in der nächsten mit Tränen füllen konnten. Sie nannte Jonathan von Anfang an „Dad“, aber trotzdem schien sie ihre Mutter fürchterlich zu vermissen.
Es war offensichtlich, dass Nicki ihre Tochter zurückhaben wollte, aber sie schaffte es irgendwie nicht, das auf die Reihe zu bekommen. Sie war ihrer Sachbearbeiterin gegenüber trotzig und aufsässig, tauchte zu spät zu den vereinbarten Besuchsterminen und prozessbegleitenden Treffen auf. Immer wieder aufs Neue vermasselte sie es, und sosehr Claire es auch versuchte, sie konnte es nicht verstehen. Wie, wie konnte jemand nicht Himmel und Erde in Bewegung setzen, um mit diesem bezaubernden Wesen zusammen zu sein? Während der unter Aufsicht stattfindenden Besuchstermine hockte Nicki sich immer zu Ella auf den Boden und schien sich trotz allem nahtlos in das Leben ihrer Tochter zu integrieren. Nicki mit Ella zusammen zu sehen erfüllte Claire mit Eifersucht, auch wenn sie sich schämte, es zuzugeben. Sie schauten einander an, lächelten und berührten sich, als wären sie schon immer zusammen gewesen. Claire sah, wie Nicki ihre Hand zärtlich an Ellas pausbäckige Wange legte, und stellte sich vor, dass Nicki sie einst genauso berührt hatte, als Ella noch in ihrem Bauch war. Es war so eine intime, beschützende Geste, dass Claire sich wegdrehen musste, weil es wehtat, sie mit anzusehen.
Jonathan und Claire hatten Ella für etwas mehr als ein Jahrbei sich. Jonathan dachte nicht, dass Nicki es schaffen würde, die notwendigen Veränderungen in ihrem Leben durchzusetzen, um Ella wieder zu sich holen zu können, doch es gelang ihr irgendwie. Claire erinnerte sich immer noch an den Ausdruck purer Ungläubigkeit auf seinem Gesicht, als sie die Kleine in jenem Februar endgültig wieder abgeben mussten. Es war ein eiskalter Nachmittag, ähnlich der Nacht, in der Ella zu ihnen gekommen war, aber nun war sie mehr als angemessen gekleidet. Sie trug einen dicken fliederfarbenen Parka mit dazu passender Mütze und Handschuhen, die sie ihr gekauft hatten. Mit ihren leuchtenden braunen Augen schaute Ella sie aufgeregt an. „Ich werde wirklich meine Mommy treffen?“, fragte sie wieder und wieder.
„Ja, Bella Ella“, antwortete Claire schweren Herzens und benutzte den Kosenamen, den sie ihr gegeben hatten. Wunderschöne Ella. „Aber dieses Mal bleibst du bei deiner Mommy …“ Sie brachte es nicht über sich, „für immer“ zu sagen. Wer weiß, dachte Claire, vielleicht macht sie einen weiteren Fehler und Ella kehrt zu uns zurück. Obwohl sie das nicht ernsthaft glaubte. Nicki wollte Ella wirklich zurück. „Für eine sehr lange Zeit“, beendete sie also den Satz. Ella dachte lange und sorgfältig darüber nach, bevor sie etwas erwiderte.
„Dad kommt mit“, sagte sie, und es war keine Frage. Ein
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