Vermächtnis des Schweigens (German Edition)
nächsten vier Abende arbeiten, aber Montagabend haben Binks und ich beide frei. Wir fänden es toll, wenn du zum Essen zu uns kommen würdest. Nichts Besonderes, einfach nur so.“
Charm überlegt, den Hörer abzunehmen, bevor ihre Mutter auflegt, um die Unterhaltung mit ihr hinter sich zu bringen, aber dann entscheidet sie sich dagegen. Wenn alles normal ist – zumindest so normal, wie es in ihrer Familie sein kann –, dann wird Reanne nicht zurückrufen. Aber wenn sie ein weniger unschuldiges Motiv hat, wird sie sich innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden ein zweites Mal melden. Beinah sofort klingelt das Telefon erneut. Aus Angst, dass das laute Geräusch Gus aufwecken könnte, geht Charm dieses Mal ran.
„Charmie“, begrüßt ihre Mutter sie zärtlich.
„Hi, Mom“, erwidert sie und versucht, ähnlich begeistert zu klingen wie ihre Mutter.
„Ich habe dich gerade angerufen, du bist aber nicht rangegangen.“ Ihre Mutter klingt verletzt.
„Tut mir leid, ich bin in dieser Minute erst nach Hause gekommen und hatte noch keine Zeit, die Nachrichten auf dem Anrufbeantworter abzuhören.“
„Hör mal, kannst du Montagabend zum Essen kommen?“, fragt Reanne.
„Oh, äh“, stottert Charm, um Zeit zu gewinnen. „Da muss ich erst in meinem Dienstplan vom Krankenhaus nachsehen. Im Moment sind meine Schichten da wirklich verrückt.“ Charm legt den Hörer beiseite, geht zum Kühlschrank und holt sich eine Dose Limonade heraus. Sie öffnete sie, trinkt einen Schluck und geht langsam zum Telefon zurück. „Mom, hey, tut mir leid. Es sieht so aus, als wenn ich arbeiten müsste. Ich fange da gerade meine neue Schicht auf der Nervenstation an. Vielleicht ein andermal.“ Charm hält sich den Handrücken vor den Mund, um ein Aufstoßen zu unterdrücken.
„Guck noch mal in deinen Plan. An welchem Abend hast du frei?“ Ihre Mutter bleibt hartnäckig.
„Die nächsten Wochen sind echt ziemlich voll. Wie wäre es an Thanksgiving?“, schlägt Charm vor.
Ihre Mutter denkt darüber nach. „Das ist in zwei Monaten. Ich hatte wirklich gehofft, dich früher zu sehen. Es ist einfach schon zu lange her. Außerdem habe ich gute Neuigkeiten, die ich mit dir teilen möchte.“
Frag nicht, frag nicht, ermahnt Charm sich im Stillen. „Was denn für welche?“, will sie dann aber doch wissen.
„Nein, da musst du schon warten“, neckt ihre Mutter sie. „Also sag mir einen Abend, an dem du Zeit hast, und Binks und ich werden unsere Pläne entsprechend anpassen.“ Siehst du, wie flexibel ich bin und wie unbeugsam du bist, scheint ihr Tonfall zu sagen.
„Okay, wie wäre es dann mit heute?“, zahlt Charm es ihr direkt heim.
„Heute? Aber das ist so schrecklich kurzfristig.“
„Heute Abend habe ich frei, Mom“, erklärt Charm geduldig. „Danach bin ich für die nächsten drei Wochen ziemlich ausgebucht.“
„Na gut, meinetwegen“, gibt Reanne genervt nach.
„Was soll ich mitbringen?“ Charm ist überrascht, dass ihre Mutter sie wirklich sehen will.
„Wie wäre es mit einem Nachtisch? Komm so gegen sieben vorbei. Ich habe bis dahin noch eine ganze Menge zu tun.“ Sie klingt aufgeregt, wie ein kleines Kind, das seine Geburtstagsparty vorbereitet.
„Mom, ich bin’s nur. Du musst nichts Tolles machen“, sagt Charm.
„Unsinn. Ich sehe dich sowieso schon viel zu selten. Ich will, dass der heutige Abend etwas Besonderes wird.“
Das ist das Ding mit Mom, denkt Charm. Sie sagt diese unglaublich einfachen, süßen Sachen, und man spürt, dass sie sie so meint. Das wirft Charm jedes Mal aus der Bahn. Sie will diese Nettigkeiten in ihrem Herzen bewahren, um sie zu einem späteren Zeitpunkt wieder hervorholen zu können.
„Oh, bevor ich es vergesse“, sagt Reanne. „Dein Bruder hat angerufen. Hat Gus dir das erzählt?“
„Er hat etwas in der Art erwähnt“, erwidert Charm spontan.
„Er klang sehr seltsam. Er meinte, er müsse mir etwas über dich erzählen. Weißt du, was er damit meint?“
„Nein.“ Das ist alles, was sie herausbringt, nachdem ihr Herz mehrere Schläge ausgesetzt zu haben scheint.
„Wir sehen uns um sieben, Süße.“
Charm steht da, hält den Telefonhörer in der Hand und versucht, nicht zu weinen, als Gus ins Zimmer kommt. Er sieht ausgeschlafen und gesund aus mit seiner rosafarbenen Haut.
Schuldbewusst erzählt Charm ihm von dem Abendessen bei ihrer Mutter.
„Natürlich solltest du gehen, Charm“, sagt er. „Sie ist deine Mutter. Du solltest Zeit mit ihr
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