Vermächtnis des Schweigens (German Edition)
meinem Leben fernhalten, die Vergangenheit vergessen und mich auf die Zukunft konzentrieren musste. Ich hatte mich geirrt.
Um zwölf habe ich eine Vorlesung, doch ich steige wieder in mein Auto und fahre zurück nach Hause. Meine Grandma ist nicht da. Milo sieht mich hoffnungsvoll an, er möchte spazieren gehen. Doch stattdessen öffne ich das Fach über dem Kühlschrank, in dem meine Großmutter ihren Alkohol aufbewahrt.Ich weiß, es ist dumm, ich weiß, dass ich es nicht tun sollte, aber ich nehme eine Flasche heraus, schnappe mir ein Glas und fülle es bis zum Rand mit dem süß riechenden Rotwein. Mein Magen ist immer noch ein wenig aufgewühlt von gestern Nacht, aber das ist mir egal. Ich will einfach nur vergessen, mir einbilden, ich wäre eine gewöhnliche Collegestudentin mit Freunden und der Möglichkeit, dass sich ein süßer Junge für mich interessiert.
Ich nehme die Flasche und gehe in mein Zimmer. Dort setze ich mich aufs Bett, nehme einen kräftigen Schluck Wein aus dem Glas und warte. Warte auf die Wirkung des Alkohols, auf die Wärme, die sich in meinen Beinen und bis in meine Fingerspitzen ausbreitet. Warte darauf, dass der Alkohol meine Gedanken vernebelt. Es war wirklich dumm von mir, zu denken, dass ich noch einmal ganz neu anfangen könnte.
CLAIRE
Claire schaut Allison hinterher, als sie nach dem Bewerbungsgespräch die Straße hinuntergeht, und ist überrascht, wie erleichtert und gelöst die junge Frau wirkt. Als sie den Laden betreten hat, wirkte Allison bedrückt, so als laste ihre Geschichte schwer auf ihren Schultern, obwohl sie versucht hat, aufrecht zu stehen und selbstbewusst zu wirken. Allison Glenn scheint trotz ihrer Vergangenheit ein nettes Mädchen zu sein. Claire glaubt fest daran, dass jeder eine zweite Chance verdient hat. Wenn ihr und Jonathan nur eine einzige Möglichkeit gegeben worden wäre, Eltern zu werden, würden sie ihr Leben jetzt nicht mit Joshua teilen.
Es war eine bitterkalte Januarnacht sieben Jahre zuvor, nur eine Woche nachdem sie ihre Lizenz als Pflegeeltern erhalten hatten, als der Anruf von Dana bei Jonathan und Claire einging. Ein drei Jahre altes Mädchen war aufgegriffen worden, als es um Mitternacht allein die Drake Street entlangging. Die Kleine trug weder Mütze noch Mantel, konnte der Gruppe Collegejungen, die sie außerhalb der Bar in der Nähe ihres Wohnheims fanden, nicht sagen, zu wem sie gehörte. Die Studenten riefen die Polizei, das Jugendamt wurde eingeschaltet, und so kam es zu Danas Anruf. „Wir sind sofort da“, hatte Jonathan erklärt. Er brauchte Claire nicht zu fragen, ob sie ein Kind aufnehmen wollte. Er wusste es. Es war Claires sehnlichster Wunsch, ein Kind zu haben – egal, ob Junge oder Mädchen, wie alt, wo es herkam, welche Hautfarbe es hatte. Das war alles völlig nebensächlich. Und Claire wusste, dass Jonathan einfach nur ein kleines, klopfendes Herz neben seinem spüren und dem Kind wieder und wieder sagen wollte, dass alles gut werden würde.
Eine ganze Zeit lang war auch alles gut gewesen, doch dann wendete sich plötzlich das Blatt. Ellas Mutter Nicki, eine zwanzigjährige Teilzeitstudentin, hatte in der Nacht, in der Ella entwischt war, mit ein paar Freunden in ihrer Wohnung Alkohol getrunken und Drogen genommen. Nicki war nicht einmal aufgefallen, dass ihr Kind plötzlich verschwunden war, bis sie zwölfStunden später wieder so weit ausgenüchtert war, um zu bemerken, dass Ella nicht mehr in der Wohnung war.
An dem Morgen gingen Claire und Jonathan in das Krankenhaus, in dem Ella auf Anzeichen von Erfrierungen oder Missbrauch untersucht wurde. Dana erklärte Ella, dass sie nun eine Weile mit zu den Kelbys nach Hause gehen würde. Ella sah sie nur verwirrt an. „Wo ist meine Mom?“, fragte sie wieder und wieder. „Ich will meine Mom.“ Sie machte keine Szene, als sie ins Auto gesetzt wurde, aber sie schaute aus dem Fenster und drehte sich nach jedem Fußgänger, an dem sie vorbeikamen, um, als wäre sie auf der Suche nach jemandem. Nachdem sie auf die Einfahrt am Haus der Kelbys eingebogen waren, schien Ella zu verstehen, dass sie so bald nicht nach Hause kommen würde. Ihre müden Augen füllten sich mit Tränen, und sie fing an, so sehr zu zittern und zu frösteln, dass ihre Zähne aufeinanderschlugen.
„Alles ist gut, Ella“, beruhigte Claire die Kleine, wickelte sie in eine dicke Decke und setzte sie aufs Sofa. „Hast du Hunger?“
Ella sagte nichts, ihre Augen waren auf den Welpen der Fremden
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