Vermächtnis des Schweigens (German Edition)

„Nicht.“ Als würde er sie dafür rügen, dass sie versucht hat, ihm das Einzige zu nehmen, was seine erste Mutter ihm gegeben hat. Sie muss ihn auf ihre eigene Art geliebt haben, denkt Claire, und er versucht, sich so fest daran zu klammern, wie er kann.
    „Wir müssen feiern“, verkündet Jonathan. „Was möchtest du zu Abend essen, Joshua?“
    „Pizza“, kommt es wie aus der Pistole geschossen. „Pizza bei Casanova’s“, fügt er bestimmt hinzu.
    „Dann also Pizza. Warum gehst du nicht nach hinten und nimmst dir einen Snack, um die Zeit zu überbrücken, bis Virginia und Shelby hier sind?“ Claire streckt die Arme aus. Joshua springt für eine kurze Umarmung hinein, dann setzt sie ihn auf dem Boden ab, und er trottet davon.
    „Puh“, sagt Claire zu Jonathan, nachdem Joshua außer Hörweite ist.
    „‚Puh‘ ist richtig“, stimmt er zu. „Ein Tag geschafft, ungefähr zweihundert weitere vor uns.“
    „Vielleicht wird alles gut.“ Claire schlingt Jonathan den Arm und die Taille.
    „Er macht das gut. Hör auf, dir solche Sorgen zu machen. Hör mal, ich muss jetzt los.“ Jonathan gibt ihr einen Kuss auf die Lippen. „Ich komme um halb sechs vorbei, dann gehen wir zusammen zu Casanova’s.“
    Nachdem sie Joshua geholfen hat, sich ein Erdnussbutter-Cracker-Sandwich zu machen, und ihm ein Glas Milch aus dem Kühlschrank im Lager eingegossen hat, geht Claire wieder nach vorn, um auf Kundschaft zu warten. Nach dem Einbruch will sie nicht mehr, dass irgendjemand allein im Laden arbeitet. Sie weiß, dass zusätzliche Angestellte teuer sind, aber mit den Steuervergünstigungen, die ihr vom Staat für die Beschäftigung eines Exhäftlings gewährt werden, ist es machbar. Sie braucht wirklich eine weitere Teilzeitkraft. Nach dem Programm zur Wiederbelebung von Linden Falls’ Innenstadt gibt es auf der Sullivan Street und anderen historischen Straßen, die parallel zum DruidRiver verlaufen, wieder einen steten Strom von Passanten. Eine der Highschool-Schülerinnen, die in den letzten drei Jahren für Claire gearbeitet hat, geht jetzt aufs College. Die andere, Shelby, ist sehr süß, aber auch sehr in außerschulische Aktivitäten eingebunden, sodass sie nur ein paar Abende pro Woche arbeiten kann. Virginia, die Frau im Ruhestand, die an den meisten Wochenenden arbeitet, wird dieses Jahr in Florida überwintern.
    Claire hofft sehr, dass Allison Glenn sich als richtige Wahl erweist. Olene Jurgison hat ihr keine Einzelheiten über Allisons Vergangenheit erzählt, aber Claire kennt Olene seit Jahren durch den Innenstadtverband von Linden Falls. Sie haben auf Wohltätigkeitsveranstaltungen und bei Gemeindeaktivitäten zusammengearbeitet, und ab und zu empfiehlt Olene eine der Bewohnerinnen aus ihrem Resozialisierungsprojekt. Bis jetzt hat Claire immer Nein gesagt.
    Um fünf Uhr fährt Jonathan vor dem Buchladen vor, und Joshua und Claire verabschieden sich von Virginia und Shelby. Das Casanova’s liegt nur ein paar Häuserblocks vom Buchladen entfernt, und so gehen sie Hand hin Hand die Straße entlang. Es ist früh im September, und die Sonne fängt gerade erst an, sanfter zu werden, so wie sie es tut, wenn der Sommer in den Herbst übergeht.
    Jonathan und Claire setzen sich in eine Nische, während Joshua davontrottet, um sich zu einer Gruppe Kinder zu gesellen, die sich vor einer Glasscheibe zur Küche versammelt haben, um zuzusehen, wie der Pizzateig ausgerollt und in die Luft geworfen wird. „Es ergibt für mich nicht wirklich Sinn, wieso du einen Exsträfling engagierst, um dich sicherer zu fühlen“, lautet Jonathans Kommentar, als Claire ihm von Allison Glenn erzählt.
    „Ich weiß, ich weiß“, stimmt Claire zu. „Aber Olene hat mir das Mädchen wärmstens empfohlen. Sie sagt, Allison sei sehr klug und habe wirklich eine Zukunft vor sich.“
    „Was hat sie getan? Ich meine, willst du wirklich, dass Joshua seine Zeit mit jemandem verbringt, der im Gefängnis war?“
    „Ich kenne die Einzelheiten nicht“, gibt sie zu. „Ich weiß nur, dass man sie wegen eines schweren Verbrechens verurteilt hat, sie aber wegen guter Führung frühzeitig entlassen wurde. Ein Teil der Vereinbarung ist, dass sie versucht, neu anzufangen, ohne die Last der Vergangenheit. Olene hat mir versichert, dass sie nicht gewalttätig ist und vom Staat nicht als Bedrohung angesehen wird.“ Claire erkennt den Zweifel in Jonathans Augen. „Ich weiß“, beteuert sie. „Es ergibt keinen Sinn, aber ich habe, was sie angeht,