Vermächtnis des Schweigens (German Edition)
leises Schluchzen entrang sich Jonathans Kehle, und Claire schluckte ihre Tränen hinunter.
„Nein, Dad kommt nicht mit“, gab Claire zurück. Sie versuchte, ihre Stimme fröhlich klingen zu lassen. Es war das Mindeste, was sie tun konnte. Sie wollte Ella nicht mit ihrer Trauer belasten. „Du wirst bei deiner Mommy leben, Ella“, erklärte Claire zum vielleicht hundertsten Mal. „Ist das nicht aufregend?“
„Jaaaa, das ist es“, stimmte Ella zu. „Aber Dad kommt mit – und du auch, Mama Claire“, beharrte sie.
„Nein, Ella. Dieses Mal nicht.“ Claire hörte Jonathan neben sich auf dem Fahrersitz schniefen und legte ihm eine Hand aufs Knie. Als sie an Danas Büro ankamen, löste Jonathan den Gurtvon Ellas Kindersitz und holte sie aus dem Auto, wobei er sie fest an seine Brust drückte, um sie vor dem eisigen Wind zu schützen. Claire bemerkte in diesem Moment, was für ein Fehler es gewesen war, hierherzukommen. Sie hatte gedacht, die Übergabe meistern zu können. Sie hatten getan, was sie versprochen hatten. Ein Jahr lang hatten sie und Jonathan Ella ein Dach über dem Kopf gegeben, sie ernährt, gekleidet und mit wahrer Zuneigung überschüttet. Sie geliebt. Und nun mussten sie sie zurückgeben. An eine Frau, die es zugelassen hatte, dass ihr kleines Mädchen mitten in der Nacht allein durch die Straßen wandert, eine Frau, die lieber trank und mit ihren Freunden feierte, als ihre Zeit damit zu verbringen, sich in dem Glanz zu sonnen, den Ella ausstrahlte, so wie sie es getan hatten. Die kalte Luft schnitt in Claires Wangen, als sie sich auf den Weg ins Gebäude des Jugendamtes machten. Den Ort, an den sie Ella immer zu den Besuchsterminen mit ihrer Mutter gebracht hatten.
„Ella, komm mal her und gib mir einen Abschiedskuss.“ Claire zwang sich, unbekümmert zu klingen.
„Auf Wiedersehen, Mama Claire“, sagte Ella und kam zu ihr. Sie gab ihr einen Kuss direkt auf die Lippen, und Claire zog sie an sich.
„Ich liebe dich, Bella Ella“, brachte Claire erstickt hervor. Die Tränen liefen ihr über das Gesicht.
„Tschüss, Dad.“ Ella löste sich aus Claires Griff und ging zu Jonathan, schlang ihre Arme um sein Bein und sagte: „Piep, piep, piep …“ Jonathan stand einen Moment lang ganz still da, und Claire musste hilflos zusehen, wie seine Brust sich schwer hob und senkte, in dem Versuch, die Fassung zu bewahren.
„Piep, piep, piep“, wiederholte Ella mit Nachdruck.
Jonathan ließ sich auf die Knie sinken, und mit einem Lächeln, das seine Augen nicht erreichte, führte er den Satz fort: „Ich hab dich ganz doll lieb.“
Ella kicherte bei dem vertrauten Spiel. „Ich dich auch.“ Sie warf sich Jonathan an die Brust und barg das Gesicht an seinem Hals.
„Ich liebe dich, Ella. Vergiss das nie, ja?“ Jonathan klang so verzweifelt, dass Claire die Augen schließen musste.
„Ich liebe dich auch.“ Ella löste sich von Jonathan und wandte sich an Nicki. „Gehen wir, Mommy. Gehen wir. Tschüss, Mama Claire, tschüss, Dad.“
„Komm, Ella“, sagte Dana. „Wir bringen schon mal deine Taschen in Moms Auto.“ Und bevor sie noch blinzeln konnten, war Ella bereits aus ihrem Leben verschwunden.
Claire und Jonathan verließen das Gebäude Hand in Hand und fuhren schweigend nach Hause. Das Haus kam ihnen so leer vor, so verlassen. Sogar Truman wusste nicht, was er von alldem halten sollte. Er schnüffelte in den Ecken und wanderte ziellos von einem Zimmer zum nächsten, immer auf der Suche nach Ella.
Claire erinnert sich, dass sie und Jonathan in der Nacht versucht hatten, miteinander zu schlafen. Zaghaft zogen sie einander aus – ein Hemd, das vorsichtig über einen Kopf gezogen wurde, eine Hose, die aufgeknöpft und nach unten geschoben wurde. Nackt standen sie im dunklen Schlafzimmer, der Frost auf den Fensterscheiben und die Spitzengardinen schirmten sie vor neugierigen Blicken ab. Jonathan ließ die schwieligen Finger über die weiche Haut an Claires Oberschenkeln wandern. Claires Lippen streiften seinen Hals, blieben einen Moment lang auf der rauen Stelle unter seinem Kinn liegen, die er beim Rasieren vergessen hatte. Schlussendlich hielten sie inne. Ihre Trauer und Erschöpfung waren einfach zu groß, und sie ließ die Arme sinken. Claire lehnte den Kopf an Jonathans Schulter, und er legte seine Wange an ihr Haar. Das Haus war still, zu still. Ihnen wurde bewusst, dass es nichts mehr gab, worauf sie lauschen mussten. Nicht länger mussten sie sich sorgen, dass Ella aus dem
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