Vermächtnis des Schweigens (German Edition)
er.
„Nein, ich schaff das schon.“ Ich sehe, wie erleichtert er ist, hole die ganzen Kartons mit meinen Klamotten aus dem Kofferraum und stelle sie neben mir auf den Bürgersteig. „Danke, Dad“, sage ich. „Grüß Mom von mir.“
„Das werde ich“, versichert er mir, während er seine Brieftasche aus der Hosentasche zieht und einige Geldscheine herausnimmt. „Hier, nimm das.“
„Das musst du nicht“, sage ich.
„Nein, bitte. Wir wollen, dass du das bekommst.“ Er drückt mir das Bündel Scheine in die Hand. „Viel Glück mit deinem neuen Job.“
„Danke“, bringe ich gerade noch heraus, dann schnüren mir die überschäumenden Gefühle den Hals zu. Ich sehe meinem Vater nach, als er davonfährt. Sehr lange stehe ich einfach nur so da, bis ich eine Hand auf meinem Arm spüre. In der Erwartung, Olene zu sehen, drehe ich mich um, doch es ist Bea. Bei ihr steht Tabatha mit all ihren Piercings.
„Alles in Ordnung mit dir?“, fragt Bea.
„Ja, mir geht es gut.“ Ich wische die Tränen ab und hoffe, dass die beiden Frauen sie nicht gesehen haben. Bea beugt sich vor und hebt mit ihren sehnigen, starken Armen einen Karton hoch. Dann tut Tabatha das Gleiche. Tatsache ist, mir geht es nicht gut. Überhaupt nicht.
CHARM
Charm hält beim Supermarkt, holt einen Apfelkuchen aus der Bäckereiauslage und eine Packung Vanilleeiscreme aus der Gefriertruhe. Sie überlegt, die billigste No-Name-Marke zu kaufen, die sie finden kann, weil sie bei Reanne vermutlich sowieso schon vor dem Nachtisch wieder gehen wird. Doch ihre Mutter wird das vermutlich nicht groß stören, sondern sie wird es nur zum Anlass nehmen, sich laut darüber Gedanken zu machen, ob Gus und Charm finanzielle Probleme haben und was für eine Schande das wäre, wo Gus doch nach der Trennung das Haus behalten hat. Charm weiß, dass sie auch nicht das teuerste Eis nehmen kann, weil ihre Mutter sonst denken würde, sie wolle angeben. Also verzichtet sie an diesem Tag auf Häagen-Dazs. Charm entscheidet sich für eine Halbliterpackung French Vanilla aus dem mittleren Preissegment.
Reanne begrüßt Charm an der Tür mit einer Umarmung. Binks nimmt ihr den Kuchen und das Eis ab und tätschelt ihr ungelenk die Schulter.
„Es ist so schön, dich zu sehen, Charm“, sagt Reanne. Sie hat ein wenig an Gewicht zugelegt und kleine Röllchen an den Hüften. Ihr Haar ist vom vielen Färben trocken und kaputt. Um ihre Augen herum haben sich feine Fältchen gebildet, in denen sich das Make-up sammelt. Charm widersteht dem Drang, einen Finger anzufeuchten und es wegzuwischen.
Ihre Mutter hat sich wirklich Mühe gegeben. Auf dem kleinen Küchentisch liegt eine geblümte Tischdecke, und überall stehen brennende Kerzen.
„Wow“, sagt Charm und sieht sich um. „Haben wir was zu feiern?“
„Nur deinen Besuch. Komm rein und setz dich. Das Essen ist schon fertig. Wir sollten anfangen, solange es noch heiß ist“, sagt sie einladend. „Für das Hühnchen musst du Binks danken, das hat er gemacht. Aber ich habe die Kartoffeln gekocht. Püriert, so wie du sie gerne magst.“
Charm verspürt einen Stich der Reue. Gus ist allein zu Hause, und nur die Ehrenamtliche vom Hospiz sieht nach ihm. „Das ist auch Gus’ Lieblingsessen.“
Schnell wirft Reanne Binks einen Blick zu, um zu sehen, ob er den Kommentar gehört hat, aber er ist zu beschäftigt damit, das Huhn auf die Teller zu verteilen. Sie wartet, bis auch er sich setzt und jeder seinen Teller gefüllt hat. Charm nimmt einen Bissen. Das Hühnchen ist trocken, und sie hat Schwierigkeiten, es herunterzuschlucken. Binks lächelt und nickt Reanne zu, die unruhig auf ihrem Stuhl hin und her rutscht, als könne sie es kaum erwarten, etwas zu sagen.
„Was ist los?“, fragt Charm und fürchtet sich gleichzeitig vor der Antwort.
„Binks und ich werden heiraten!“, posaunt Reanne fröhlich heraus, und Charm spürt, wie ihr das Lächeln auf den Lippen gefriert. Sie versucht, die Lippen zu bewegen, doch nichts passiert. Binks und Reanne schauen sie erwartungsvoll an.
„Wow“, bringt Charm leise hervor. Der Drang, dieser winzigen Wohnung mit der fettigen, von Zigarettenrauch erfüllten Luft und dem ganzen Nippes zu entkommen, ist mit einem Mal überwältigend.
„Und …?“ Ihre Mutter beugt sich vor, wartet auf mehr. Binks schaut auf seinen Teller. In seinem Schnurrbart klebt Kartoffelmus.
„Und … ich freu mich für euch“, sagt Charm, aber das Zittern in ihrer Stimme verrät sie. Alles, woran
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