Vermächtnis des Schweigens (German Edition)
Großmutter festhalten, um nicht hinzufallen.
„Die Grippe“, bringe ich gerade noch heraus, bevor ich aus meinem Zimmer und ins Bad stürze, wo ich mich in die Toilette übergebe. Als ich endlich die Tür wieder öffne und mit wackligen Schritten auf den Flur hinausgehe, steht meine Großmutter da und schaut mich besorgt an.
„Ich habe angefangen, mir Sorgen zu machen“, sagt sie. Sie nimmt mich am Ellbogen und führt mich zurück zu meinem Bett. „Ich habe zehn Minuten lang versucht, dich zu wecken. Du warst vollkommen weg.“
„Die Grippe“, murmle ich erneut. Ich kann ihr nicht in die Augen sehen, also schlüpfe ich zurück unter die Decke – und sehe das Glas auf meinem Nachttisch. Ein kleiner Schluck Wein hat sich am Boden gesammelt. Falls es meiner Großmutter aufgefallen ist, lässt sie es sich nicht anmerken.
„Kann ich dir einen Toast oder eine Suppe machen?“ Sie setzt sich neben mich auf die Matratze.
„Nein.“ Ich vergrabe den Kopf unter der Decke, damit ich sie nicht anschauen muss. „Ich will einfach nur schlafen.“
Sie sitzt eine ganze Weile schweigend da. Ich will nur, dass sie geht und mich allein lässt. Schließlich spricht sie. „Brynn, geht es dir gut? Ist irgendetwas passiert?“
„Nein“, sage ich, noch immer unter der Decke. Ich kann meinen Atem riechen, abgestanden und sauer. „Ich bin krank.“
„Nimmst du deine Medikamente?“, fragt sie vorsichtig, alsfürchte sie, mich durch die Frage zu beleidigen.
„Ja, Grandma“, gebe ich ungeduldig zurück. „Bitte, ich will einfach nur schlafen. Ich fühle mich nicht gut.“
„Hast du heute schon deine Tabletten genommen?“
Ich schlage die Decke zurück und setze mich auf. Dann schnappe ich mir die Tablettendose, schraube den Deckel ab, halte eine Kapsel in die Luft, damit meine Großmutter sie sehen kann, lege sie mir auf die Zunge und schlucke übertrieben. Danach öffne ich weit den Mund, damit sie sehen kann, dass die Tablette weg ist. Ich weiß, dass ich gemein bin, weiß, dass meine Großmutter sich nur Sorgen um mich macht. Ich lasse mich zurück aufs Bett fallen und bedecke mein Gesicht mit einem Kissen. Ich fühle mich krank und elend.
Nach einigen Minuten spüre ich, wie meine Großmutter mir das Bein tätschelt, sich vom Bett erhebt und leise aus dem Zimmer geht. Dann spucke ich die Tablette aus, die ich unter meiner Zunge versteckt hatte.
ALLISON
Ich kann kaum glauben, dass ich den Job bei Bookends bekommen habe. Jedes Mal, wenn ich daran denke, wie mir vor Mrs Kelby die Tränen in die Augen geschossen sind, zucke ich innerlich zusammen. Ich habe in den letzten paar Tagen mehr geweint als in den letzten einundzwanzig Jahren. Ich fange morgen an und habe absolut nichts anzuziehen, das auch nur halbwegs angemessen wäre. Mrs Kelby hat nur ein paar Regeln bezüglich der Kleidung ihrer Angestellten: keine Jeans, keine T-Shirts, keine Sweatshirts. Aber was anderes habe ich nicht. Den ganzen Nachmittag über habe ich immer wieder bei meinen Eltern angerufen. Endlich nimmt mein Vater ab.
„Hallo“, sagt er. Die Vertrautheit seiner selbstbewussten, wohlklingenden Stimme lässt mich erschauern, und ich drücke das Telefon noch fester ans Ohr.
„Hey, Dad“, begrüße ich ihn. Die Worte bleiben mir beinah im Hals stecken. „Ich bin’s, Allison.“
Am anderen Ende der Leitung herrscht Schweigen, und ich weiß, dass mein Vater darüber nachdenkt, was er tun soll. Aufhängen oder mit mir sprechen? „Ich habe einen Job, Dad“, sage ich schnell. „In einem Buchladen. Und ich habe mich gefragt, ob ich vorbeikommen und mir ein paar meiner alten Klamotten rausholen kann. Ich habe im Moment noch nichts, das schick genug wäre, um es zur Arbeit anzuziehen. Deshalb dachte ich, ich könnte meinen Kleiderschrank durchgehen und sehen, was mir noch passt. Ich habe in den letzten Jahren nicht wirklich zugenommen und könnte vermutlich immer noch meine alten Kakihosen und eine nette …“ Mir fällt auf, dass ich ins Plappern verfalle, und höre unvermittelt auf zu sprechen. Ich höre den Atem meines Vaters durch den Hörer. „Dad, darf ich bitte vorbeikommen?“ Meine Handflächen sind schweißnass, und ich habe die Telefonschnur so fest um meinen Finger gewickelt, dass er blau anläuft.
„Dad?“ Ich höre den flehenden Unterton in meiner Stimme.
Er räuspert sich und sagt: „Aber natürlich, Allison. Warum kommst du nicht heute Abend gegen sechs? Dann schauen wir mal, was wir für dich finden.“ Er klingt
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