Vermächtnis des Schweigens (German Edition)
sie denken kann, ist, wie sehr Gus sich immer gewünscht hat, ihre Mutter zu heiraten. Dieser unglaublich sanfte, verantwortungsvolle, gut aussehende Mann hat ihre Mutter geliebt, aber sie ist einfach fortgegangen. „Ich wünsche euch alles Gute“, bringt Charm noch schwach heraus.
„Das tust du nicht“, widerspricht Reanne gereizt. „Du bist nicht glücklich. Du kannst es nicht ertragen, zu sehen, dass es mir gut geht.“
„Mom“, erwidert Charm müde. „Das ist es nicht. Ich freuemich für dich. Ich bin nur überrascht.“
„Überrascht? Wovon überrascht, Charm?“ Sie ist jetzt richtig wütend. „Überrascht, dass ich verliebt bin und heiraten werde? Nach allem, was ich durchgemacht habe, dachte ich, dass wenigstens du Verständnis haben würdest.“
„Was hast du denn durchgemacht?“, fragt Charm zweifelnd, auch wenn sie weiß, dass es keinen Sinn hat, sich aufzuregen. Wie immer wird ihre Mutter ihr die Worte im Mund umdrehen, wird es wieder schaffen, Charm als die Undankbare, Gehässige dastehen zu lassen. „Was hast du denn durchgemacht?“, wiederholt sie die Frage, dieses Mal etwas sanfter. „Du bist wirklich unglaublich, Mutter. Entschuldige bitte, dass ich ein wenig skeptisch bin, was deine Pläne angeht, dich mit nur einem Mann zur Ruhe zu setzen. Das ist nicht gerade das, was man dir abkauft.“
„Also wirklich, Charm.“ Binks ist die Stimme der Vernunft. „Kein Grund, respektlos zu werden.“
„Weißt du, was respektlos ist?“, fragt Charm, und ihre Stimme klingt gefährlich ruhig. „Einen Mann nach dem anderen mit nach Hause zu bringen, sodass deine Kinder keine Ahnung haben, wer am nächsten Morgen am Frühstückstisch sitzen wird. Es ist respektlos, Männer ins Haus zu bringen, die sich an deine neun Jahre alte Tochter ranmachen!“ Reanne sieht einen Moment lang verwirrt aus, als wenn sie im Geist all ihre ehemaligen Liebhaber durchgeht, um herauszufinden, welcher davon Charm angegraben hat. „Es ist respektlos, dein Kind in dem Glauben aufzuziehen, dass Männer dumme Rindviecher sind, die man wegwerfen kann wie Müll. Es ist respektlos, sich von dem einzigen vernünftigen Mann zu trennen, der dich und deine Kinder geliebt hat, und ihm damit das Herz zu brechen. Das ist respektlos.“ Charm schiebt den Stuhl zurück und steht auf.
„Du gehst schon?“, fragt Reanne ungläubig. „Wir haben doch noch gar nicht aufgegessen. Und auch noch nicht über deinen Bruder gesprochen.“
„Ich habe keine Lust mehr zu reden.“ Ruhig schaut Charm ihre Mutter an. Sie geht zur Tür und ändert dann ihre Meinung.Sie weiß, dass es kindisch ist, aber sie kann nicht anders. Langsam geht sie zum Kühlschrank, öffnet die Tür vom Eisfach und nimmt ihre Packung Vanilleeis heraus. Sie und Gus werden heute Abend Eis essen. Sie wird ihm nichts von der bevorstehenden Hochzeit ihrer Mutter sagen. Stattdessen wird sie ihm erzählen, dass ihre Mutter ihr ziemlich einsam und unglücklich vorkam und nachgefragt hat, wie es ihm geht. „Habt ein glückliches Leben.“ Charm versucht, so viel Wohlwollen wie möglich in ihre Worte zu legen, doch in ihrer Stimme schwingt ein bitterer Unterton mit. Sie geht, und ihre Mutter und Binks schauen ihr mit offenem Mund hinterher.
Als sie zu Hause ankommt, zittert Charm immer noch vor Wut. Sie ist nicht sicher, warum die Nachricht, dass ihre Mutter heiraten wird, sie so aufregt. Sie nimmt an, es hat damit zu tun, dass es Gus’ Gefühle verletzen wird. Ganz leise wirft sie einen Blick in sein Zimmer. Da er tief und fest schläft, entschließt sie sich, einen Spaziergang am Druid River zu machen. Sie mag den Fluss. Im Herbst sitzt sie immer unter den Scheinakazien, deren kleine gelbe Blätter sie wie die Federn eines Kanarienvogels umschweben. Im Winter kann sie hier meilenweit gehen, die kalte Luft treibt ihr die Tränen in die Augen, und ihre Stiefel hinterlassen Abdrücke im Schnee wie von Bigfoot.
Vor Jahren, als Charm zwölf war, hat sie eine ganze Armee von Schnee-Engeln gemacht. Einen für jeden Mann, den ihre Mutter je mit nach Hause gebracht hat – zumindest die, an die sie sich erinnern konnte. Mit ihrem Finger hat sie dann neben jeden Engel die Initialen des Mannes in den Schnee geschrieben. Wenn sie den Namen nicht mehr wusste, schrieb sie, woran sie sich noch erinnern konnte. C. S. stand für den Mann mit den Cowboystiefeln. Damals war sie sechs gewesen, und sie konnte sich nicht erinnern, den Mann selbst überhaupt mal gesehen zu haben. Nur die
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