Vermächtnis des Schweigens (German Edition)
Stiefel, die im Schlafzimmer ihrer Mutter auf dem Boden lagen. Grau und schuppig sahen sie im Dunkeln aus, als würden sie das Zimmer bewachen und wären bereit, jederzeit zuzuschlagen. Als sie nach dem letzten Engel aufgestanden war und ihr Werk betrachtethatte, Reihe um Reihe von in den Schnee geprägten Engeln, hatte Charm sich irgendwie befriedigt gefühlt. Das Einzige, was fehlte, war ein kleiner roter Fleck in der Mitte jedes Engels. Ein gebrochenes Herz. Immer war es Charms Mutter, die gegangen war, niemals der Mann. Sie ließ sie immer nur so nahe an sich heran, dass sie mehr wollten.
Charm geht so lange am Fluss entlang, bis ihre Wut verraucht ist, dann kehrt sie nach Hause zurück und sieht noch einmal nach Gus. Er rührt sich nicht. Auf Zehenspitzen schleicht sie in ihr Zimmer und zieht den Schuhkarton heraus, den sie seit Jahren in einer Schublade ihrer Kommode versteckt.
In diesem Karton bewahrt sie die wenigen Erinnerungen an die Zeit mit ihrem Baby auf. Es waren weniger als drei Wochen, und es scheint Ewigkeiten her zu sein. Ab und zu setzt sie sich auf ihr Bett und berührt jeden Gegenstand. Da ist das Paar winziger Babysocken in zartem Lavendelblau. Sie waren zu groß für die noch winzigeren Füße ihres Sohnes und sahen an ihm aus wie Clownsschuhe. Wenn er mit den Beinen gestrampelt hat, rutschten die Socken immer herunter, und er wackelte mit den Zehen, als wolle er sagen: „Ah, das ist besser.“ Aber es waren seine Socken, und er hat sie getragen, wenn auch nur für kurze Zeit, und somit sind sie etwas Besonderes. Außerdem befindet sich in dem Karton eine Rassel in Form einer Hummel und eine winzige blaue Baseballkappe der Chicago Cubs. Und ganz unten liegen zwei kleine gerahmte Fotos. Eines zeigt eine unglaublich jung und unglaublich erschöpft aussehende Charm, die ein weinendes, rotgesichtiges Baby im Arm hält. Das andere ist von Gus, lächelnd, ein ruhiges, schlafendes Baby haltend. Sie weiß, dass sie ihrem Sohn niemals von den ersten beiden Tagen seines Lebens erzählen kann. Dass er von einem fünfzehnjährigen Mädchen und einem kranken Mann geliebt worden ist, die keine Ahnung hatten, was sie taten, aber es so lange mit ihm versucht haben, bis sie nicht mehr konnten.
ALLISON
Ich bin so nervös. Weit nervöser als damals, als ich nach den Aufnahmeprüfungen fürs College auf die Ergebnisse gewartet habe. Ich will diesen Job wirklich gut machen. Mein Leben beginnt ganz neu, und das hier ist erst der Anfang.
Obwohl es erst Anfang September ist, hat sich die Luft schon merklich abgekühlt, und die Blätter der Bäume, die die Straßen säumen, fangen bereits an, sich leuchtend gelb und rot zu färben. Ich komme zu früh am Laden an und warte angespannt vor der Tür. Mrs Kelby winkt, als sie ihr Auto in eine Parklücke lenkt.
„Guten Morgen, Allison“, ruft sie und steigt aus. „Bist du bereit für einen großartigen Tag?“
„Das bin ich“, erwidere ich. „Und auch ein wenig nervös“, gebe ich zu.
„Du wirst das schon schaffen“, versichert mir Mrs Kelby. „Wenn du irgendwelche Fragen hast, stell sie mir einfach.“ Sie schließt die Tür auf, betritt den Laden und schaltet das Licht an. Es ist ein schönes Licht, warm und einladend. Ich drehe mich einmal im Kreis und lasse den Blick über die Regale mit den Büchern schweifen, die sich vom Boden bis zur Decke erstrecken. Die Bücherei im Gefängnis war nur unzureichend ausgestattet, aber als ich da war, habe ich alles gelesen, was ich in die Finger bekommen habe, auch wenn die Bücher Eselsohren und Flecken hatten und einige Seiten lose waren. Aber hier hat jedes Buch einen glänzenden, schimmernden Einband, und ich will mir eines schnappen, es öffnen und meine Nase zwischen den gestärkten, sauberen Seiten vergraben. Mrs Kelby beobachtet mich amüsiert.
„Ich weiß, was in dir vorgeht“, erklärt sie. „Ich muss mich selbst jeden Tag kneifen. Diese Bücher zu sehen begeistert mich immer wieder. Komm, ich zeig dir alles.“ Sie führt mich einmal durch den ganzen Laden, durch die Kinderabteilung mit den Sitzsäcken und dem kleinen Tisch mit passenden Stühlen, der für eine Teeparty gedeckt ist.
Brynn und ich haben auch immer Teepartys veranstaltet, alswir noch klein waren. Wir haben die alten Kleider meiner Mutter angezogen und ihren Schmuck angelegt, unsere Lieblingsstofftiere und Puppen zusammengesucht und sie auf die Stühle gesetzt, die um den Tisch in unserem Spielzimmer herumstanden. Ich war immer die
Weitere Kostenlose Bücher