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Vermächtnis des Schweigens (German Edition)

Vermächtnis des Schweigens (German Edition)

Titel: Vermächtnis des Schweigens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heather Gudenkauf
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abgelenkt, weit entfernt. Nicht kalt und distanziert, aber auch nicht wirklich warmherzig. Nicht so, wie man es erwarten würde, wenn jemand seit Monaten nicht mit seiner Tochter gesprochen hat.
    „Danke“, sage ich. „Bis dann. Tschüss.“ Ich warte auf seine Verabschiedung, höre aber nur das sanfte Klicken, als aufgelegt wird. Meine Eltern brauchen nur ein wenig Zeit, um sich an die Vorstellung zu gewöhnen, dass ich aus dem Gefängnis entlassen wurde und zurück in Linden Falls bin. Sie brauchen einfach nur ein bisschen mehr Zeit, versuche ich mich zu trösten.
    Als Olene die Straße entlangfährt, in der ich aufgewachsen bin, bemerke ich erstaunt, wie wenig sich in den fünf Jahren verändert hat, seitdem ich weg bin. Alles sieht noch genauso aus. Die gleichen säuberlich gemähten Rasenflächen, die gleichen großen Häuser aus rotem Backstein mit den Doppelgaragen und Blumenkästen an den Fenstern. Sie biegt vor dem Haus meiner Kindheit ein, und eine Flut von Erinnerungen überkommt mich. Meine Mutter, die am Küchentisch sitzt und in Kochbüchern blättert, mein Vater, der an dem Schreibtisch in seinem Büro arbeitet, ich, die ich in meinem Zimmer lerne. Brynn, die auf Zehenspitzen durchs Haus schleicht und versucht, unbemerkt zu bleiben.
    „Soll ich hier draußen auf dich warten, Allison?“, fragt Olene.
    „Nein. Nein, ist schon okay“, sage ich. „Mein Dad wird mich zurückfahren.“ Aber ich mache keine Anstalten, aus dem Auto zu steigen. Erwartungsvoll sieht Olene mich an.
    „Allison?“ Sie tätschelt mir das Knie. „Geh und triff dich mit deinen Eltern. Es wird nicht so schlimm, wie du denkst.“
    Ich schenke ihr ein schwaches Lächeln. „Danke, Olene. Du kennst meine Eltern nicht.“
    „Waren sie hart zu dir? Haben sie dich herumgeschubst?“, will Olene wissen. „Du bist jetzt erwachsen. Sie können dirnicht mehr wehtun.“
    „Sie haben mich nicht geschlagen“, erwidere ich lachend. „Zumindest nicht mit ihren Fäusten.“
    „Was dann?“, will sie wissen.
    „Das ist schwer zu erklären.“ Ich lege meine Hand auf den Türgriff. „Ich war perfekt.“
    „Und …“
    „Und dann war ich es nicht mehr.“ Ich öffne die Wagentür, steige aus und winke Olene zum Abschied zu. Dann trotte ich langsam den Weg entlang und fühle mich auf einmal wieder wie ein zehn Jahre altes kleines Mädchen.
    An der Haustür zögere ich. Ich weiß nicht, ob ich klingeln oder einfach hineingehen soll. Ich war seit fünf Jahren nicht mehr hier und kenne meinen Platz nicht mehr. Falls ich hier überhaupt noch einen Platz habe. Schließlich drücke ich auf die Klingel. Ein paar Augenblicke später höre ich Schritte, dann öffnet mein Vater die Tür. „Hey, Dad“, sage ich schüchtern und trete vor, um ihn zu umarmen. Ich spüre, wie er sich versteift, und lasse die Arme sinken. Unbehaglich schaut er mich an. Er ist immer noch der gleiche große, gut aussehende Mann, den ich in Erinnerung habe, aber ich bin überrascht, wie viel Gewicht er zugelegt hat und wie sich sein Bauch gegen den Stoff seines Oberhemdes drückt. Sein braunes Haar ist grau und dünn geworden, und unter seinen Augen zeichnen sich schwere Tränensäcke ab. Ich werfe einen Blick über seine Schulter, um zu sehen, wo meine Mutter bleibt. „Ist Mom zu Hause?“
    „Sie ist im Moment nicht hier“, sagt er und verlagert sein Gewicht verlegen von einem Fuß auf den anderen. Hinter ihm im Flur sehe ich mehrere Kartons stehen.
    „Oh“, stoße ich hervor, als es mir dämmert. Es wird kein Abendessen mit meinen Eltern geben. Kein gemeinsames Durchgehen des Kleiderschranks mit meiner Mutter. Ich denke an mein altes Zimmer mit den in einem sanften Lavendelton gestrichenen Wänden und der gepunkteten Bettdecke. Ich habe dieses Zimmer geliebt. Es war mein Zufluchtsort. Ein Ort, an dem ich einfachich selbst sein konnte.
    „Kann ich dir helfen, die Kisten ins Auto zu tragen?“, fragt mein Vater gezwungen fröhlich.
    „Ich habe kein Auto, Dad“, erwidere ich kurz angebunden. „Ich bin gerade aus dem Gefängnis entlassen worden. Ich habe weder ein Auto noch Kleidung noch irgendetwas.“
    „Oh, na dann.“ Ein gequälter Ausdruck erscheint auf seinem Gesicht. „Kann ich dich irgendwo hinbringen?“
    „Mach dir keine Umstände“, murmle ich und wende mich von ihm ab. Mein Herz tut mir weh. Dann drehe ich mich schnell wieder um. „Ich will es sehen“, sage ich. Mein Vater schaut verwirrt drein, und ich fahre fort: „Ich will mein Zimmer

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