Vermächtnis des Schweigens (German Edition)
sehen.“
„Allison“, sagt mein Vater und zuckt hilflos die Schultern. Ich dränge mich an ihm vorbei, betrete das Haus und schaue mich um. Ich gehe ins Wohnzimmer, und alles scheint so zu sein wie fünf Jahre zuvor. Die gleiche Blumentapete an den Wänden, das gleiche Sofa samt Sessel, der gleiche Flügel. Sogar der Geruch ist der gleiche. Eine Mischung aus Rosenblüten und Zimt. Aber irgendetwas stimmt nicht, irgendetwas ist anders – ich weiß nur noch nicht, was. „Allison“, sagt mein Vater erneut. Dieses Mal klingt seine Stimme hart, kalt. „Was tust du da?“
Ich ignoriere ihn und steige die Treppe hinauf, die zu meinem Zimmer führt. Der Teppich fühlt sich unter meinen Füßen weich an, und das Geländer aus Mahagoni ist samtig und kühl an meiner Hand. Ich bleibe unvermittelt stehen und weiß es mit einem Mal – weiß, was anders ist. Die Bilder. Alle Bilder sind weg. Jedes einzelne Foto von mir ist verschwunden. Langsam steige ich die Treppe weiter hinauf. Meine Beine fühlen sich schwer an, und mein Herz hämmert in der Brust.
„Allison“, ruft mein Vater mir nach. „Du kannst nicht einfach so hier hereinplatzen …“ Seine Stimme bricht, als ich die letzte Stufe erreiche. Die Luft hier oben fühlt sich abgestanden an und lastet schwerer auf mir, als es die Luft im Gefängnis getan hat. Ich unterdrücke den Drang, mich umzudrehen, die Treppe hinunterzustürmenund hinaus an die frische Luft zu laufen. Die Tür zu meinem Zimmer ist geschlossen. Ich strecke die Hand nach dem Knauf aus, drehe ihn, und die Tür öffnet sich. Die gedämpfte Abendsonne schwächt den Schock nicht ab. Verschwunden sind die lavendelfarbenen Wände, verschwunden ist meine gepunktete Bettdecke, verschwunden sind mein Schreibtisch, meine Fußballpokale, meine Siegerschleifen, meine Teamfotos, meine Bücherregale, meine Stofftiere. Alles weg. Ich unterdrücke einen Schluchzer, stürze zu meinem Schrank und reiße die Tür auf. Leer. Keine Kleidung, keine Schuhe, keine Kartons voller Erinnerungen. Ich wurde ausgelöscht.
Als ich aus meinem Zimmer in den Flur stolpere, sehe ich, dass die Tür zum Schlafzimmer meiner Eltern einen Spaltweit offen steht. Ich erhasche einen Blick auf meine Mutter, ihr Gesicht beinahe vollständig in den Schatten verborgen.
Auf meinem wilden Lauf die Straße hinunter erwarte ich, zu hören, wie sie meinen Namen rufen, oder ihre Hand auf meinem Arm zu spüren. Aber nichts. Sie lassen mich einfach fortgehen. Ich bin wütend auf mich, weil es mir das Herz bricht, aber das tut es nun mal. Ich gehe ein paar Straßen weiter. Gertrude House liegt ungefähr fünf Meilen vom Haus meiner Eltern entfernt, und ich frage mich, ob ich es schaffe, bis acht Uhr dort zu sein, die Zeit, zu der Olene mich zurückerwartet. Ich höre ein Auto hinter mir und drehe mich um. Es ist mein Vater, und mein Magen schlägt einen Purzelbaum, obwohl ich mich darüber ärgere, dass es mich überhaupt berührt.
„Allison“, ruft er durch das heruntergelassene Seitenfenster. „Ich bringe dich schnell.“ Auch wenn ich einfach nur die Autotür öffnen und einsteigen möchte, will ich es ihm doch auch nicht zu leicht machen.
„Es ist so offensichtlich, dass du und Mom nichts mehr mit mir zu tun haben wollt, also gib dir keine Mühe.“ Ich mache mich wieder auf in Richtung Gertrude House.
Mein Vater folgt mir langsam in seinem Auto. „Allison“, ruft er. „Ich sage es nur noch ein Mal. Bitte steig ins Auto.“ Ich schaueihn lange an, dann klettere ich auf den Beifahrersitz. Er stellt den Motor aus und schaut mich an. Dann fährt er sich mit der Hand übers Gesicht. „Allison, du musst das mal von unserem Standpunkt aus sehen. Das alles war sehr schwer für uns.“
„Aber ich …“, fange ich an, doch er unterbricht mich.
„Lass mich ausreden. Für deine Mutter und mich war das alles kaum zu ertragen. Und nun haben wir endlich eine Art …“ Er sieht mich an. „… Frieden gefunden.“
Er will, dass ich sie vom Haken lasse, ich sage, dass ich verstehe, wieso sie mich komplett abgeschrieben haben. Auf eine Weise tue ich das auch, doch deshalb tut es nicht weniger weh. Sie sind fertig mit mir. Ende der Durchsage.
„Okay, Dad, ich hab’s kapiert.“ Ich lächle traurig. „Sag Mom, dass ich es verstehe.“ Mein Vater stößt den angehaltenen Atem aus, lässt den Motor an und fährt los. Als wir vor dem Gertrude House ankommen, öffnet mein Vater den Kofferraum.
„Brauchst du Hilfe mit den Kartons?“, fragt
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