Vermächtnis des Schweigens (German Edition)
Jonathan“, stellt sie uns einander vor.
„Schön, Sie kennenzulernen, Mr Kelby.“ Ich strecke die Hand aus, und er ergreift sie mit seiner, die rau und schwielig ist.
„Ich freue mich auch, dich kennenzulernen. Und bitte, nenn mich Jonathan“, sagt er freundlich.
„Und ich bin übrigens Claire. Schluss mit diesem Mrs-Kelby-Unsinn.“
„Mom“, sagt der kleine Junge und tritt von hinten an uns heran. „Ich habe Durst.“
„Hast du dir die Hände gewaschen?“, fragt Claire.
„Jupp. Kann ich etwas Saft haben?“
„Komm erst mal her. Ich möchte dir Allison vorstellen.“ Ich reiße den Blick vom Computermonitor los und drehe mich um, um Claires Sohn zu begrüßen. „Joshua, das ist Allison.“ Claire lächelt. „Allison, das ist mein Sohn Joshua.“
Der kleine Junge vor mir hat braune Augen, eine Stupsnase und scharfe Gesichtszüge. Aber erst als er lächelt, sehe ich es. Ich höre Claire reden, sie plappert weiter über Joshua, und ich schlucke schwer, versuche, die Gefühle, die in mir toben, zu verbergen.In meinem Kopf herrscht blankes Chaos.
„Entschuldigt mich bitte“, sage ich zu Claire und Jonathan. „Ich muss nur mal kurz ins Bad.“ Ich versuche, bemühe mich, langsam zu gehen und locker zu wirken, doch mein Gesicht fühlt sich heiß an, und ich kann nicht richtig atmen. Ich schließe die Tür hinter mir und klappe den Toilettendeckel runter, damit ich mich hinsetzen kann. Ich schließe die Augen, und im Geiste sehe ich Christophers Gesicht vor mir.
Joshua Kelby ist die Miniaturausgabe des Jungen, in den ich mich verliebt hatte.
BRYNN
Auch wenn Alkohol effektiver ist als jedes Antidepressivum, wenn es darum geht, die Nacht zu vergessen, in der Allison das Kind zur Welt gebracht hat, kann ich mich doch immer noch daran erinnern, zum Haus zurückgelaufen zu sein, während Allison mir hinterherrief. Es regnete in Strömen. Jeglicher Schlamm vom Flussufer war fortgewaschen worden. Ich fühlte mich so seltsam, meine Beine waren schwer, ich zitterte. Aber trotzdem rannte ich zum Haus. Einfach nur das Haus erreichen, sagte ich mir wieder und wieder. Ich war mir nicht sicher, was ich gerade gesehen hatte, wollte es auch nicht wissen. Es sollte vorbei sein. Erledigt. Aber ich wusste, dass es eigentlich erst der Anfang war.
Als ich endlich wieder unser Haus betrat, waren meine Klamotten vollkommen durchnässt, und ich konnte nicht aufhören zu zittern. Ich schaute durch die Hintertür in den Garten, und durch den Regen sah ich Allison auf mich zukommen. Alle paar Sekunden blieb sie stehen, hielt sich den Bauch und beugte sich vornüber. Ich wusste, dass ich zu ihr gehen, ihr helfen sollte, ins Haus zu kommen, aber in dem Moment habe ich meine Schwester wirklich gehasst. Hasste alles an ihr, hasste sie dafür, perfekt zu sein und klug und schön, dafür, schwanger geworden zu sein und zu erwarten, dass ich darüber schwieg. Außer mir und Allison würde niemand jemals von dem kleinen Mädchen erfahren, niemand würde wissen, dass es existiert hatte. Am meisten jedoch hasste ich sie, weil ich sicher war, dass sie damit durchkommen und ohne einen Blick zurück in ihr perfektes Leben zurückkehren würde. Ich drehte mich von ihr weg, zog meine nassen Turnschuhe aus und lief auf quatschnassen Socken zum Wäscheschrank, um mir ein Handtuch zu holen.
Ich hörte das Quietschen der Fliegengittertür, und über den prasselnden Regen hinweg hörte ich auch Allison, die schwach nach mir rief. „Brynn, bitte .“
Geh nicht, sagte ich mir. Das ist alles ihre Schuld. Sie hat das angerichtet, soll sie sich auch drum kümmern.
„Brynn“, rief sie wieder. Ich hörte die Panik in ihrer Stimme. „Irgendetwas stimmt nicht. Bitte. Hilf mir.“
Ignoriere sie, befahl ich mir erneut. Geh in dein Zimmer und schließ die Tür. Tu so, als wäre das alles nicht passiert. Da hörte ich, wie meine Schwester zu Boden stürzte. Lass sie liegen. Sie würde dasselbe mit dir machen.
Ihr Stöhnen hallte aus der Küche bis zum Treppenhaus, und ich setzte mich auf eine Stufe. Ich hielt mir die Ohren zu und fing an, vor und zurück zu schaukeln. Geh nicht nach unten, tu es nicht. Lass sie da. Sie ist nicht deine Schwester, sie ist ein Monster.
Unvermittelt hörte das Stöhnen auf, und nun hörte ich nur noch, wie der Regen aufs Dach trommelte. Angespannt lauschte ich, ob ein Geräusch aus der Küche kam, irgendeine Regung. Doch es herrschte eine unheimliche Stille. Plötzlich durchzuckte mich die Wahrheit wie ein
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