Vermächtnis des Schweigens (German Edition)
solltest ihr eine Chance geben. Du kennst ihre Geschichte nicht.“
„Weißt du“, sage ich etwas genervt, „ich gebe ihr eine Chance,sobald sie mir eine gibt. Ich weiß, dass sie hinter den ganzen verdammten Puppen steckt, die überall auftauchen. Sie kennt mich nicht mal, hat sich aber schon eine Meinung über mich gebildet.“ Ich setze mich wieder auf mein Bett. „Geh ohne mich. Ich werde versuchen, meine Schwester anzurufen.“
„Wie du willst“, sagt Bea. „Aber heute Abend bekommen wir eine Pediküre.“ Sie schaut auf ihre Füße und wackelt mit den Zehen. „Ich hatte noch nie eine Pediküre.“
Der Mensch, dem ich davon erzählen will, dass ich Joshua gefunden habe, ist Brynn. Vielleicht würde es ihr helfen, zu erfahren, dass es doch noch etwas Positives an dieser Nacht gibt, in der ich die Kinder geboren habe. Aber wieder einmal kann ich sie nicht erreichen. Meine Großmutter sagt mir, dass sie ausgegangen ist. Ich verspüre einen Hauch von Eifersucht. Ich sollte jetzt auf dem College sein und Zeit mit meinen Freunden verbringen. Dann klingt meine Eifersucht ab, und ich fühle mich schuldig. Brynn verdient allen Spaß, den sie nur kriegen kann. Ich weiß, dass sie am meisten unter den Auswirkungen meiner Verhaftung zu leiden hatte. Ich weiß, dass man sie wegen meiner Tat herumgeschubst und lächerlich gemacht hat. Ich weiß, dass sie versucht hat, sich das Leben zu nehmen.
„Wirst du ihr sagen, dass ich angerufen habe?“, frage ich meine Großmutter.
„Natürlich“, erwidert sie. „Wie geht es dir, Allison? Hast du deine Mom und deinen Dad schon getroffen?“
„Mir geht es gut“, beteuere ich. „Mom und Dad heißen mich nicht wirklich mit offenen Armen willkommen, aber ich habe heute meinen neuen Job angefangen. In einem Buchladen.“
„Das freut mich für dich“, sagt Grandma enthusiastisch. „Siehst du, du kommst bereits wieder auf die Beine.“
„Grandma, spricht Brynn jemals über den besagten Abend? Hat sie dir je davon erzählt?“
Am anderen Ende der Leitung herrscht Schweigen, und ich habe Angst, dass die Verbindung unterbrochen wurde oder, schlimmer noch, dass meine Großmutter aufgelegt hat. „Grandma?“,hake ich nach.
„Nein, sie spricht nie darüber“, antwortet Grandma traurig. „Ich wünschte, sie würde es tun. Zumindest mit ihrem Arzt. Die Dinge in sich verschlossen zu halten tut nie gut. Ich sage ihr, dass du angerufen hast, Allison. Pass gut auf dich auf, ja?“
„Danke, Grandma. Bis bald.“ Ich lege auf. Ich schätze, ich bin nicht die Einzige, die gut darin ist, ein Geheimnis zu bewahren.
Mein Haar fühlt sich schwer an und kratzt mich am Hals. Ich frage mich, ob ich es wagen kann, Flora statt um eine Pediküre um einen Haarschnitt zu bitten. Dann erinnere ich mich an das, was Olene über Hoffnung gesagt hat, und mache mich auf den Weg die Wendeltreppe hinunter in Richtung des fröhlich klingenden Gelächters.
CHARM
Egal, wie oft Charm eine Mutter sieht, die ihr neugeborenes Baby in den Armen hält – und im Krankenhaus sieht sie sehr oft welche –, sie denkt jedes Mal an die Nacht vor fünf Jahren zurück.
Gus schnarchte in seinem Sessel. Die Fenster waren weit geöffnet, und eine für Juli ungewöhnlich kalte Brise wehte durch die Fliegengittertür herein. Früher am Abend hatte es ein wenig geregnet, und nun roch alles frisch und sauber. Charm saß im Dunkeln und schaute fern. Sie hatte die Lautstärke ganz leise eingestellt, um Gus nicht zu wecken. Er hatte in letzter Zeit nicht sonderlich gut geschlafen. Es fiel ihm immer schwerer zu atmen, und oft wachte er mehrmals die Nacht nach Luft schnappend auf. Sie wussten es damals noch nicht, aber das war erst der Anfang all der schlimmen Dinge, die die Diagnose Lungenkrebs mit sich bringen sollte.
Charm hörte das Knirschen von Kies, als ein Auto sich näherte, und erhob sich von der Couch, um aus dem Fenster zu schauen. Ein kleines Auto, die Scheinwerfer ausgeschaltet, hielt vor dem Haus, und auf der Beifahrerseite stieg jemand aus. Sie konnte nicht sagen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte, aber die Person bewegte sich langsam und schlurfenden Schrittes zur Vordertür, als wäre sie sehr alt oder litte unter starken Schmerzen. Die große Gestalt trug etwas und blieb alle paar Schritte stehen, um sich auszuruhen und Kraft zu sammeln, wie es schien.
„Gus“, sagte Charm leise, doch er schlief weiter. Ein mulmiges Gefühl beschlich sie, und sie schaltete die Außenbeleuchtung
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