Vermächtnis des Schweigens (German Edition)
Ein großes Foto von Joshua, der einen Fußball in den Armen hält und eine hellgrüne Fußballkluft trägt, scheint mich anzustarren. „Allison?“, fragt Claire. „Sind das zu viele Stunden?“
Ich reiße meinen Blick von dem Foto los. „Nein, je mehr Stunden du für mich hast, desto besser.“
„Toll. Am Samstag wirst du mit Virginia zusammenarbeiten. Sie ist nur noch bis Oktober oder so hier, dann reisen sie und ihr Mann nach Florida, um dort zu überwintern. Du könntest dann vielleicht noch ein paar ihrer Stunden übernehmen, wenn du magst.“
Ich kann Claire hören, aber alles, woran ich denken kann, ist Joshua in der kleinen grünen Spielermontur. Er spielt Fußball. So wie ich früher. Ich frage mich, was wir noch gemeinsam haben.
CHARM
Sie hat noch zwei Stunden, bevor sie am St. Isadore’s sein muss. Als Krankenschwesternschülerin wird von Charm erwartet, dass sie einmal in allen Abteilungen des Krankenhauses arbeitet. Nächste Woche soll sie ihre Schicht auf der Nervenheilstation antreten. Da passe ich gut hin, denkt sie. Mit diesen Menschen zu arbeiten wird nichts Neues für sie sein, denn von den vielen Freunden ihrer Mutter waren bestimmt drei Viertel psychisch labil oder sogar krank. Alle außer Gus natürlich. Sie hat ein bisschen ein schlechtes Gewissen, weil sie einfach so aus der Wohnung ihrer Mutter gestürmt ist. In der Zwischenzeit hat sie sie angerufen und sich dafür entschuldigt. Aber am Ende der Unterhaltung konnte Charm nicht anders, als die Frage zu stellen, die sie so sehr zurückzuhalten versucht hat: Hatte sie immer noch vor, Binks zu heiraten? Die Antwort ihrer Mutter bestand darin, einfach aufzulegen.
Sie hat bereits in der Geriatrie, der inneren Medizin, der Kinderheilkunde und auf der Entbindungsstation gearbeitet. Die Entbindungsstation war am härtesten. All die süßen Neugeborenen zu sehen, die auf eine ganz bestimmte Art eingewickelt wurden, damit sie sich sicher und wohlfühlten, war schlimm gewesen. Charm hatte nicht gewusst, wie man ein Baby so einwickelt – und Gus auch nicht. Sie hatten ihn einfach mit einer leichten Decke zugedeckt und das Beste gehofft. Wenn ich es nur gewusst hätte, denkt Charm oft, dann hätte ich es so viel besser machen können.
Nachdem Allison Glenn wieder gefahren und Christopher weggegangen war, waren Charm und Gus völlig verstört zurückgeblieben. Charm hielt das kleine, schreiende Baby ganz fest an die Brust gedrückt und schaukelte sachte vor und zurück, um es zu beruhigen.
„Kennst du das Mädchen?“, fragte Gus sie über das Schreien des Babys hinweg.
„Das war Allison Glenn.“ Charm konnte es selbst nicht glauben.Allison Glenn und Christopher? Bis heute wollte die Vorstellung, dass ihr Bruder und Allison eine Beziehung gehabt hatten, ihr nicht in den Kopf. „Sie geht auf meine Schule. Ihre Schwester ist in meiner Klasse“, hatte sie Gus erklärt.
„Wir müssen jemanden anrufen. Wir müssen das Baby ins Krankenhaus bringen“, keuchte Gus, während er von einem Hustenanfall geschüttelt wurde.
„Vielleicht kommen sie zurück“, flüsterte Charm. Das Baby hatte aufgehört zu weinen und blinzelte im hellen Deckenlicht. Sein Mund verzog sich zu einem kleinen rosafarbenen O.
„Ich weiß nicht“, sagte Gus. „Er sollte von einem Arzt untersucht werden.“
„Allison Glenn ist das klügste Mädchen der Schule. Ich wusste nicht mal, dass sie schwanger ist“, wunderte sich Charm. „Sie wird zurückkommen – oder Christopher. Sie können das Baby nicht einfach zurücklassen. Sie müssen wiederkommen.“
Gus sah nicht recht überzeugt aus. Charm konnte sich nicht vorstellen, das Baby ins Krankenhaus zu bringen und der Welt Allison Glenns Geheimnis zu offenbaren. „Du bist Feuerwehrmann, Gus. Du hast gesagt, du hättest mal geholfen, ein Baby zur Welt zu bringen …“
„Richtig, ich habe bei der Geburt geholfen , und dann haben wir Mutter und Kind sofort ins Krankenhaus gebracht“, unterbrach er sie und nieste. „Das Mädchen sollte sich selbst mal untersuchen lassen. Wir müssen das Kind ins Krankenhaus bringen.“
„Können wir nicht noch ein wenig warten? Bitte“, bettelte Charm. „Er scheint doch ganz in Ordnung zu sein.“
Gus seufzte und ließ sich auf einen Stuhl fallen. „Wir müssen ein paar Sachen für ihn besorgen, Milchpulver und Windeln. Wir geben ihnen ein paar Stunden, Charm. Mehr nicht. Das hier ist kein Spiel.“ Gus stand wieder auf und ging resigniert in die Nacht hinaus. Kurz danach
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