Vermächtnis des Schweigens (German Edition)
einem kleinen Restaurant. Nachdem wir uns an einen Tisch gesetzt haben, bringt uns die Kellnerin die Speisekarte, und wir beide bestellen Hamburger mit Pommes frites.
„Hier haben sie das beste Essen“, erklärt Claire. „Ehrlich gesagt ist dieses Restaurant sogar einer der Gründe, warum ich mich entschieden habe, das Gebäude auf der anderen Straßenseite zu kaufen. Die Vorstellung, jederzeit hierhergehen zu können, war einfach zu verlockend.“
„Du hast deinen Ehemann also während einer Flut kennengelernt?“, bringe ich unsere Unterhaltung zurück auf die Geschichte von Claire und Jonathan.
„Nun ja, so könnte man sagen“, fängt Claire an.
CLAIRE
„In dem Frühling, als ich fünfundzwanzig wurde, kam die Flut.“ Claire trinkt einen Schluck. „Der Frühling fing wunderschön an. Jeden Morgen hatten wir frische zehn Grad, aber bereits um zehn Uhr waren die Temperaturen auf zwanzig Grad gestiegen. Wir waren uns alle sehr wohl bewusst, dass die Flut aus dem Norden auf dem Weg zu uns war – die Firmen und Farmen entlang dem Mississippi in Minnesota und Wisconsin waren bereits zerstört worden –, aber es war einfach so schwer zu glauben, weil es in diesem Frühjahr nicht sonderlich viel geregnet hatte. Und die Schneise der Zerstörung, die die Flut auf ihrem Weg hinterließ, war noch schwerer zu fassen.“
„Ich erinnere mich daran, dass meine Eltern über die Flut gesprochen haben. Wir … sie wohnen in der Nähe des Druid …“ Allison bricht ab und senkt beschämt den Kopf.
Claire tut so, als bemerke sie es nicht, und fährt fort: „Wir hatten geplant, den Häuserblock um die Bücherei mit Sandsäcken abzudichten. Es gab viele Freiwillige. Die Organisation der Freunde der Bücherei , unser lokaler Red Hat Club, Mitglieder der Jaycees, sogar der Obdachlose, der kalte oder regnerische Tage in der Bücherei verbrachte und den Des Moines Register las oder hinter einem riesigen Weltatlas döste. Alle hatten sich vor der Bücherei versammelt, um zu helfen.“
Claire lächelt bei der Erinnerung daran, wie sie Jonathan das erste Mal gesehen hat. Er war groß, hatte das Gesicht eines Akademikers und den Körper eines Arbeiters. Ernste, nachdenkliche blaue Augen hinter einer Metallbrille. Er hatte die Stirn gerunzelt, und zwischen seinen Brauen hatte sich bereits eine steile Falte eingegraben. Seine lange, schlanke Gestalt war kraftvoll und sehnig. Er trug Arbeitshandschuhe und hielt eine Schaufel, als Claire der Menge für ihr Kommen dankte. Sie spürte, wie ihre Haut unter seinem Blick zu kribbeln begann, als sie die Tausende von Büchern beschrieb, die sie zusammen mit den Computern und der Kunstsammlung zu retten versuchten. Im Inneren der Büchereiwaren Mitarbeiter damit beschäftigt, alles aus dem Erdgeschoss in die oberen Stockwerke zu bringen, aber es war eine kaum zu bewältigende Aufgabe.
„Mein Job war es, einen Sack aufzuhalten, den Jonathan mit Sand füllte. Dann band ich den Sack zu und legte ihn in die wartenden Arme des Obdachlosen, der, wie ich an dem Tag lernte, Brawley hieß. Von da wurde der Sack dann die Menschenkette hinuntergereicht, die sich gebildet hatte. Nach vier Stunden hatte ich Blasen an den Händen, und die Haut an meinen Unterarmen war ganz aufgescheuert von dem Sand, den Jonathan in die Säcke schaufelte. ‚Du solltest es ruhiger angehen lassen‘, hat Jonathan zu mir gesagt.“ Claire erinnert sich, zugesehen zu haben, wie Jonathan sich gegen seine Schaufel lehnte, sich mit dem Arm den Schweiß vom Gesicht wischte und dabei feine Sandkörner auf seinen verschwitzten Wangen verteilte. „Von da an begannen die Dinge sich zu entwickeln.“ Claire zuckt mit den Schultern. „Das Lustige ist, die Flut ist nie gekommen. Das ganze Sandschaufeln war völlig umsonst. Aber Jonathan und ich haben ein paar Monate später geheiratet, uns ein Haus gekauft und Bookends eröffnet. Dann kam Joshua.“ Nachdenklich lächelt Claire Allison an. „Es ist komisch, wie die Dinge sich ergeben.“
Claire fällt Allisons Gesichtsausdruck auf. Allison will sie etwas fragen, ist aber offensichtlich zu schüchtern.
ALLISON
Ich weiß, dass ich die Frage sorgfältig formulieren muss, damit Claire keinen Verdacht schöpft. „Wie lange wart ihr verheiratet, als ihr Joshua bekommen habt?“ Ich versuche, normal und ruhig zu klingen, aber innerlich bin ich total aufgewühlt.
Ein schmerzhafter Ausdruck huscht über Claires Gesicht. „Joshua ist adoptiert. Jemand anderes hat den schweren
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