Vermächtnis des Schweigens (German Edition)
Menschen hinter meinem Rücken und schauten mich an, als wäre ich ein Freak. Wenn gerade kein Lehrer anwesend war, bekam ich oft widerwärtige Kommentare zu hören. Ich habe mich nie damit abgefunden, aber ich habe gelernt, damit umzugehen. Ich gewöhnte mir an, Augenkontakt zu vermeiden und den Kopf gesenkt zu halten. Ich stellte sicher, mich mit der Menge zu bewegen, am Rand zu bleiben, aber trotzdem trafen mich die Gehässigkeiten wie Faustschläge in den Magen. Wie geht es der Mörderin im Gefängnis? Auf einmal ist deine Schwester gar nicht mehr so eine Tolle, was? Bist du auch eine Babymörderin? In ihren Stimmen klang eine perfide Freude mit. Sie genossen jeden Augenblick von Allisons tiefem Fall. Es waren immer die gleichen Leute – die Mädchen, mit denen sie Fußball und Volleyball gespielt hatte. Die Jungen, mit denen ihre Clique die Pausen verbracht hatte.
Am Ende meines Juniorjahres – neun Monate nach Allisons Verhaftung – beging ich den Fehler, noch im Klassenraum zu bleiben, um etwas mit meinem Politiklehrer zu besprechen. Man hätte gedacht, dass diese Idioten weitergezogen wären und sich einfach jemand anderen gesucht hätten, um ihn zu schikanieren und ihm das Gefühl zu geben, wertlos zu sein. Als ich aus dem Klassenraum trat, fand ich mich in einem vollkommen verlassenen Korridor wieder.
Ich wusste, dass ich ein Problem hatte, als Chelsea Millard, ein Mädchen, das ein paar Klassen über mir und einst die beste Freundin meiner Schwester gewesen war, und zwei ihrer Schoßhündchen den Flur betraten. Auch wenn es Frühling war und die Temperatur entsprechend warm, bekam ich eine Gänsehaut und fing an zu zittern, als ich sah, wie Chelsea sich aufrichtete, einen Blick rechtschaffener Empörung auf dem Gesicht.
Mein zweiter Fehler war, einen Moment lang zu zögern. Ich hätte einfach weitergehen sollen, den Kopf gesenkt, einfach immer weitergehen. Aber ich tat es nicht. Ich stolperte, und die Mädchen lachten über meine Tollpatschigkeit. Sie umkreisten mich, die Hände in die Hüften gestemmt, die Ellbogen ausgestellt wie Krähenflügel, und schauten verächtlich auf mich herab.
„Wie geht es deiner Schwester?“, fragte Chelsea abfällig. „Ich wette, die Frauen im Knast lieben Allison.“ Ihre Freundinnen lachten, und mir fiel auf, wie hässlich Gemeinheit an Frauen aussieht, wie sie ihre Augen in schmale Schlitze verwandelt, ihre Münder zu einem boshaften Lächeln verzieht. Ein bitteres Lächeln, als wenn sie gerade in etwas Saures gebissen hätten. Ich starrte auf ihre grotesk verzerrten Gesichter und schüttelte mich.
„Sauer“, sagte ich, bevor ich mich zurückhalten konnte. Ihr Lachen hörte abrupt auf. Einen Moment lang waren sie sprachlos, nur um dann noch wütender dreinzuschauen.
„Pst“, sagte ich laut zu mir. „Halt den Mund. Sag nichts.“ Ich wusste, dass ich mich seltsam benahm, aber ich konnte nicht anders.
„Hast du mir gerade gesagt, ich soll den Mund halten?“, fragte Chelsea ungläubig und machte einen Schritt auf mich zu. Auf meiner Stirn bildete sich ein feiner Schweißfilm. Oh Gott, dachte ich erleichtert, ich fange an, zu verdunsten. Schnell hielt ich mir die Hand vor den Mund, um ein Kichern zu unterdrücken. Ich denke nicht, dass ich das laut gesagt hatte, aber ich war mir nicht sicher.
„Du bist verrückt“, zischte Chelsea. „Genau wie deine Schwester, die Babymörderin.“ Ich schaute auf meine Schuhe und fragte mich, ob ich kleiner und kleiner wurde. Ich hoffte, ich würde langsam verschwinden.
„Versteckst du da unten irgendwas?“, wollte eine von Chelseas Freundinnen wissen. Sie langte nach meinem T-Shirt. Um ihrer Hand auszuweichen, trat ich einen Schritt zurück und knallte in die Reihe Spinde hinter mir. „Versteckst du da ein Baby, so wie deine Schwester?“ Erneut griff sie nach meinem T-Shirt undpackte dieses Mal eine Handvoll Stoff. Dabei erwischte sie auch ein Stück der weichen, fleischigen Haut meines Bauchs und riss sie nach oben. Vor Überraschung und Schmerz schrie ich auf.
„Lasst sie in Ruhe“, ertönte da eine resolute Stimme vom anderen Ende des Flurs. Das helle Nachmittagslicht fiel durch die Fenster, die den Gang säumten, und machten es schwer, zu erkennen, wer da auf uns zukam. Als die Person einigermaßen nah dran war, erkannte ich Charm Tullia.
„Lasst sie einfach in Ruhe“, sagte Charm ganz ruhig. Sie wirkte weder verängstigt noch eingeschüchtert von den älteren Mädchen, nur genervt.
„Was geht dich
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