Vermächtnis des Schweigens (German Edition)
das an?“, fragte das Mädchen, das immer noch mein T-Shirt hielt.
Charm ignorierte es und fuhr fort, Chelsea ganz ruhig und direkt in die Augen zu sehen. Das Wettstarren schien ewig zu dauern, bis Chelsea endlich den Blick senkte und zu ihren Freundinnen sagte: „Kommt, gehen wir, wir haben Training.“ Sie bedachte uns noch mit einem lauten „Freaks“, dann drängelte sie sich grob an Charm vorbei, und eilte, gefolgt von ihrer Entourage, davon.
„Alles okay?“, fragte Charm und berührte mich sanft am Arm. Ich starrte auf ihre Hand mit den abgeknabberten Fingernägeln, überrascht, dass sie nicht durch meine Haut hindurchgeglitten war. Ich hatte mich also doch nicht aufgelöst.
„Ich bin noch da“, sagte ich leise.
Ich hatte vor, ihr zu danken. Aber ich bin einfach davongeschwebt.
ALLISON
Ich fange mit dem Telefonbuch an und suche den Namen Tullia. Es gibt nur einen Eintrag, eine Reanne Tullia, die drüben auf der Higgins Street wohnt. Keinen Christopher.
Ich denke an Charm Tullia, Christophers kleine Schwester. Charm, ihr Stiefvater und Christopher sind neben Brynn und mir die einzigen Menschen, die von Joshua wissen. Wie hieß der Stiefvater noch mal mit Nachnamen? Ich erinnere mich, wo sie fünf Jahre zuvor gewohnt haben, aber ich habe keine Möglichkeit, dahin zu kommen, sollten sie immer noch dort leben. Ich muss mit ihnen sprechen. Traue ich mich, diese Reanne Tullia anzurufen? Ich schätze, es kann nicht schaden. Ich könnte einfach nach Christopher oder Charm fragen und mehr nicht. Oder? Ich atme tief durch und fange an, mit zitternden Händen Reanne Tullias Nummer zu wählen. Dann lege ich auf.
Ich versuche, ein paar Informationen zusammenzutragen, und dann gehe ich zu Devin, verspreche ich mir selbst. Tief im Inneren weiß ich, dass das gefährlich ist, sogar dumm. Aber trotzdem nehme ich den Hörer wieder in die Hand und wähle die Nummer, die ich inzwischen auswendig kenne. Es klingelt und klingelt und klingelt, und gerade als ich auflegen will, hört das Klingeln auf.
Hier im Gertrude House lerne ich, geduldig zu sein. Die Frauen hier lassen mich endlich in Ruhe. Ich schätze, nachdem ich nicht total ausgeflippt bin, als ich die ganzen Puppen gefunden habe, die sie in jedem Eimer und jeder Toilette versenkt hatten, haben sie die Lust daran verloren, mich zu terrorisieren. Trotzdem ignorieren die meisten von ihnen mich noch, außer Olene und Bea und manchmal auch Tabatha.
Bea kann toll erzählen, aber auch gut zuhören. Manchmal spricht sie stundenlang über ihre vier Kinder, die zwischen zwölf Jahren und neun Monaten alt sind. Sie wohnen bei ihrer Schwester in einer Stadt, die mit dem Auto ungefähr eine halbe Stunde von hier entfernt ist. Sie erzählt mir, dass ihr Ältester, ein Junge, ein so guter Schüler ist, dass er schon mehrere Auszeichnungenerhalten hat, und außerdem ist er der Starpitcher des Baseballteams. Und ihre drei Mädchen sind sowieso die Klügsten und Süßesten.
„Hast du sie in letzter Zeit mal gesehen?“, frage ich, während wir das Abendessen vorbereiten. „Können sie dich hier besuchen kommen?“
Bea schüttelt den Kopf und gibt eine Handvoll Nudeln ins kochende Wasser. „Nein. Ich will noch nicht, dass sie mich sehen. Ich bin dazu noch nicht bereit.“
„Wofür musst du bereit sein?“, will ich wissen. „Du bist aus dem Gefängnis raus, sie sind in der Nähe. Ich bin sicher, sie sehnen sich danach, dich zu sehen.“
„Vielleicht“, erwidert Bea. „Aber ich will erst sichergehen, dass ich die Mom bin, die ich sein soll. Ich will gesund sein. Ich will, dass sie stolz auf mich sind.“
„Du bist ihre Mutter … natürlich werden sie stolz auf dich sein“, versichere ich ihr.
Erneut schüttelt sie den Kopf. „Ich bin high auf dem Elternabend meiner Tochter erschienen, als sie in der zweiten Klasse war. Ich bin durch den Raum getorkelt und habe auf die Schuhe der Lehrerin gekotzt. Da war sie ganz sicher nicht stolz auf mich. Ich will sicher sein, dass ich trocken und clean bleibe und einen guten Job habe. Dann und erst dann werde ich meine Kinder wiedersehen.“
„Ich weiß nicht“, werfe ich ein. „Meine Eltern zum Beispiel wirkten nach außen wie Eltern, auf die jedes Kind stolz sein sollte. Aber sie schienen sich nicht sonderlich für uns zu interessieren.“ Ich öffne den Kühlschrank und hole das Salatdressing heraus. „Geh und besuch deine Kinder, Bea. Alles, was sie wirklich wollen, ist, mit dir zusammen zu sein, zu wissen, dass
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