Vermächtnis des Schweigens (German Edition)
heraus.
Argwöhnisch betrachtet Joshua die Rolle. „Das ist einfach nur normales Klebeband“, informiert er mich.
Ich zucke mit den Schultern und sage: „Es sieht nur wie normales Klebeband aus. Wir können es ja mal versuchen, wenn du magst. Oder wenn nicht, kannst du den Glitter auch gerne behalten, wenn dir das lieber ist.“ Ich lege das Klebeband auf den Tresen. Das ist etwas, das ich im Gefängnis gelernt habe – wann immer es dir möglich ist, lasse dem anderen die Chance, sein Gesicht zu wahren.
Er denkt einen Moment lang nach und steht dann zu unser aller Überraschung auf. „Okay, ich probiere es.“ Ich reiße ein Stück Klebeband von der Rolle und lege es so zu einer Schlaufe zusammen, dass die klebrige Seite nach außen zeigt.
„Willst du es selbst versuchen?“, frage ich. „Oder sollen Mom und Dad dir helfen?“
„Tut es weh?“, fragt Joshua ängstlich.
„Kein bisschen“, versichere ich ihm.
„Dann mach du das“, sagt er. Es klingt wie ein Befehl.
„Joshua“, verwarnt Claire ihn.
„Würdest du mir bitte mit dem Zauberklebeband helfen?“, versucht er es erneut.
„Sicher“, sage ich. „Sieh genau hin, das ist wirklich ziemlich beeindruckend.“ Vorsichtig reibe ich mit dem Klebeband über den Ärmel seines T-Shirts und zeige Joshua dann den orangefarbenen Glitter, der daran hängen geblieben ist. „Cool, oder?“ Ich lächle ihn an. Er lächelt zurück. Und da ist sie, unsere Verbindung. Sie ist subtil, nur ein Funke – oder besser gesagt ein Schimmer –,aber sie ist da. Ich weiß nicht, ob er mich wiedererkennt, aber wir haben ein zartes Band geknüpft. Ich schaue zu Claire, und sie lächelt mich mit neu gewonnenem Respekt an. Dann schaue ich zu Jonathan, der ebenfalls beeindruckt ist.
Die nächsten dreißig Minuten verbringe ich mit Joshua in der Kinderabteilung des Buchladens und entferne sorgfältig jedes Glitterpartikelchen von seinem T-Shirt, seiner Hose und sogar seinen Schuhen. Der Glitter, der an seinen Fingern, seinem Gesicht und seinen Haaren klebt, ist allerdings eine ganze andere Sache. Joshua hat Angst, mich das Klebeband direkt auf seiner Haut anwenden zu lassen. „Das tut weh“, sagt er mir und schaut gleichzeitig ernst und erwartungsvoll drein.
„Nun, das ist deine Entscheidung“, sage ich. „Du kannst den Glitter lassen, wo er ist, oder wir können versuchen, ihn mit dem Zauberklebeband von deiner Haut zu entfernen. Wenn du findest, dass es wehtut, höre ich auf.“
„Kann ich es selbst versuchen?“, fragt er hoffnungsvoll.
„Natürlich.“ Ich zeige ihm, wie er das Klebeband falten muss. Er drückt es leicht gegen seine Haut, zieht es ab und untersucht mit ernster Miene die daran klebenden Glitzerpartikel.
„Das hat gar nicht wehgetan“, freut er sich und fährt mit der Arbeit fort, bis seine Hände glitterfrei sind. Joshua erlaubt mir, ihm mit dem Gesicht und den Haaren zu helfen, solange ich verspreche, nicht zu sehr zu ziehen und sofort aufzuhören, wenn er darum bittet. Er schließt die Augen und legt den Kopf in den Nacken, damit ich sein Gesicht behandeln kann, und die ganze Zeit, die ich an ihm arbeite, betrachte ich sein längliches Gesicht und das spitze Kinn. Ich lerne das Muster der blauen Adern auf seinen geschlossenen Lidern auswendig und präge mir seine Wimpern ein, die sich wie ein Fächer auf seine Wangen legen. Die Art, wie er seine Lippen unter der Stupsnase zu einem Schmollmund verzogen hat, erinnert mich ganz stark an Christopher. Als ich ihm sage, dass ich fertig bin, fragt er: „Kann ich es sehen?“ Er läuft zu den Toiletten, um in den Spiegel zu schauen. Ich kehre nach vorn in den Laden zurück, wo Claire gerade einen Kunden bedient.Joshua kommt wenige Minuten später breit lächelnd dazu. „Es hat funktioniert“, erklärt er seiner Mutter. „Vielleicht kann ich etwas von dem Klebeband mit in die Schule nehmen.“
„Sicher“, sagt Claire. „Aber ich wette, wenn du deine Lehrerin fragst, hat sie sicher selbst welches. Und was sagst du jetzt zu Allison?“
„Danke“, bringt er schüchtern hervor.
„Gern geschehen“, erwidere ich.
„Mom, kann ich was zu essen haben?“ Joshua sieht Claire an, und mein Herz zieht sich zusammen, ohne dass ich sagen könnte, warum.
„Hol dir ein paar Cracker aus dem Büro.“ Er zischt ab. „Wow“, sagt sie dann an mich gewandt und klingt beinahe bewundernd. „Das hast du super gemacht.“ Ich erröte. „Wo hast du das gelernt?“
Ich zucke mit den Schultern, als
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