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Vermächtnis des Schweigens (German Edition)

Vermächtnis des Schweigens (German Edition)

Titel: Vermächtnis des Schweigens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heather Gudenkauf
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wäre es keine große Sache. „Es ist immer gut, dem anderen eine Wahl zu lassen. Dann fühlt er sich nicht in die Ecke gedrängt.“
    Claire schüttelt den Kopf. „Das habe ich in ungefähr jedem Erziehungsratgeber gelesen, aber immer, wenn ich daran denke, hat Joshua sich schon dermaßen in seine Wut hineingesteigert, dass alles zu spät ist. Ich werde es beim nächsten Mal noch mal versuchen.“
    Verlegen schaue ich zu Boden. „Hast du eine Aufgabe für mich? Soll ich Bücher einsortieren oder so?“
    „Weißt du, was mir eine große Hilfe wäre?“ Claire schaut zu der Bulldogge, die an der Eingangstür steht und gegen die Scheibe sabbert. „Würde es dir was ausmachen, einmal kurz mit Truman um den Block zu gehen? Ich will Joshua im Moment nicht allein lassen.“ Entschuldigend lächelt sie mich an. „Ich weiß, das gehört nicht zur Arbeitsplatzbeschreibung in einem Buchladen, aber Truman und der Laden kommen sozusagen im Paket.“
    „Kein Problem“, sage ich. „Truman ist toll. Da, wo ich wohne, sind leider keine Tiere erlaubt.“ Ich hole schnell meine Jacke aus dem Büro im hinteren Teil des Ladens. Als ich zurückkomme,ist Jonathan gegangen – zurück zur Arbeit, schätze ich – und Claire und Joshua haben sich bereits in ein Buch vertieft. Ich lege Truman die Leine an, und gemeinsam gehen wir hinaus in die frische Septemberluft. Ich führe ihn zu einem kleinen Rasenstück neben dem Laden und warte geduldig, bis er sich erleichtert hat.
    Ich spüre ihn im Rücken, kaum merklich, aber doch da. Irgendjemandes Blick. Daher drehe ich mich um und sehe, dass es Claires Ehemann ist, der in seinem weißen Truck sitzt und mich mit unbeweglicher Miene beobachtet. Bevor ich es verhindern kann, hebe ich die Hand und winke ihm zu. Er lächelt und winkt zurück. Dann legt er den Gang ein und rollt langsam vor, und eine Minute lang denke ich, er hält an, um mit mir zu sprechen, doch das tut er nicht. Stattdessen fädelt er sich in den Verkehr ein und fährt weg. Noch lange schaue ich ihm hinterher, selbst als er um die Ecke gebogen und außer Sicht ist. Ich frage mich, ob er weiß, wer ich bin. Aber das ist unmöglich. Truman zieht an der Leine, also kehre ich mit ihm zu Bookends zurück und sehe, dass Joshua im Schaufenster steht und mich beobachtet.

CHARM
    Charm sitzt voll bekleidet in der leeren Badewanne. Es scheint der einzige Ort im Haus zu sein, an den sie sich zurückziehen kann, um Gus’ rasselnden Atem nicht zu hören. Sie weiß, dass sie tapfer sein, nach draußen gehen und sich zu ihm setzen sollte. Immerhin wird sie bald Krankenschwester sein. Aber ihre ganze Ausbildung hat sie nicht auf das hier vorbereiten können. Gus stirbt auf eine Art, die niemand verdient hat – sogar die gemeinste Person auf der Welt sollte nicht so leiden müssen wie er. Er erstickt, langsam, schmerzvoll, direkt vor ihren Augen, und es gibt nichts, das sie tun kann, um ihm zu helfen, auch wenn er sie noch so verzweifelt anschaut. Sie stellt sich vor, dass seine geschwärzten Lungen seine Brust zusammendrücken, um wenigstens etwas Luft zu bekommen. Die Lungenentzündung hat sich schnell festgesetzt. Gus’ Haut hat einen gräulichen Farbton angenommen, sein Körper schwindet dahin und besteht nur noch aus Haut und Knochen. Er erinnert sie an die Bilder von Überlebenden aus Konzentrationslagern, die sie im Geschichtsunterricht gesehen hat. Der einzige Teil von ihm, der nicht dünn ist, ist sein Gesicht samt Hals. Beides ist ganz aufgeschwemmt. Manchmal ist es schwer, ihn in all diesem geschwollenen gelben Fleisch zu finden, aber ab und zu lächelt er, und dann sieht sie ihn wieder – den lustigen, energiegeladenen Gus, der jede Schulveranstaltung von Charm besucht hat, der ihr beigebracht hat, wie man Freiwürfe ausführt und Kolaches backt. Jetzt sieht er aus wie ein Fremder.
    Charm überlegt, ihre Mutter anzurufen, aber sie weiß nicht, was sie ihr sagen soll. Nur zwei Mal im Leben hat Charm ihre Mutter wirklich gebraucht: einmal, als der kranke Freund ihrer Mutter zudringlich geworden ist, während Reanne arbeiten war, und einmal, als Allison ihr Joshua dagelassen hat. Beide Male war ihre Mutter nicht da. Ich könnte jetzt eine Mutter gebrauchen, denkt Charm. Jemanden, der mir hilft, mich um Gus zu kümmern, der mir versichert, dass alles gut wird. Unglücklicherweiseist Reanne Tullia nicht diese Person.
    Charm klettert aus der Badewanne und betrachtet sich im Spiegel. Ihre Augen sind blutunterlaufen, und um ihre

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