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Vermächtnis des Schweigens (German Edition)

Vermächtnis des Schweigens (German Edition)

Titel: Vermächtnis des Schweigens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heather Gudenkauf
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Lippen haben sich kleine Falten gebildet, die, wie sie weiß, daher kommen, dass sie ihren Mund ständig besorgt zusammenzieht. Ich sehe so alt aus, denkt sie. Ich bin erst zwanzig und fange schon an, wie eine alte Frau auszusehen.
    Charm hat ihren Lehrern in der Schule erzählt, dass sie ein paar Tage freinehmen muss, um sich um Gus zu kümmern. Sie waren sehr verständnisvoll. Sie weiß, dass sie das nächste Mal erst nach Gus’ Beerdigung in den Unterricht zurückkehren wird.
    Widerstrebend verlässt sie ihren Zufluchtsort im Badezimmer und geht zu Gus. Seine Augen sind leicht geöffnet, und sie zieht sich einen Stuhl an sein Bett und setzt sich. Charm hat seinen alten Fernseher in sein Schlafzimmer getragen, und zusammen mit Gus guckt sie schweigend dumme Sitcoms und Wiederholungen von alten Polizeisendungen. Es ist nicht wichtig, was sie sich anschauen, solange der Klang des Fernsehers das teekesselähnliche Pfeifen übertönt, das aus Gus’ Brust kommt. Als Gus einen Hustenanfall bekommt, hilft Charm ihm vorsichtig, sich aufzusetzen, und reibt ihm in kreisenden Bewegungen den Rücken, wie sie es ihn bei Joshua hat tun sehen, als er noch bei ihnen war. Wieder und wieder tätschelt Charm Gus den Rücken und flüstert ihm ermutigende Worte zu, so als wäre er jetzt das Baby. „Es ist okay, es ist okay. Lass es raus.“ Gus ballt seine Hand zur Faust und löst dann wieder seine skelettartigen Finger. Als das Husten endlich aufhört, gibt Charm ihm einen Schluck Wasser zu trinken, schüttelt die Kissen auf und legt Gus vorsichtig die Sauerstoffmaske um. Dann setzt sie sich wieder hin, bis sein Atem ruhiger wird und er einschläft.
    Jane hat dafür gesorgt, dass die Leute vom Hospizprogramm bei Gus vorbeischauen, und Charm ist dafür sehr dankbar. Sie sind sehr nett und hilfreich, aber trotzdem ist es Charm, auf die Gus schaut. Es ist Charm, der seine wässrigen Augen durch den Raum folgen, als flehten sie sie an, ihm zu helfen. Die meiste Zeitüber ergibt das, was er sagt, keinen Sinn, und er ruft Charm beim Namen ihrer Mutter, was ihr geradezu körperliche Schmerzen bereitet. Doris, die Ehrenamtliche aus dem Hospiz, versucht ihr zu erklären, dass Gus’ Krebs daran schuld ist und die ganzen Schmerzmittel, die er nehmen muss.
    Der Herbst ist schnell über sie hereingebrochen, und heftige Regenschauer peitschen über das Land. Es regnet den ganzen Tag. Charm findet es deprimierend, Tag für Tag in dem kleinen Haus zu sitzen. Sie will wieder zur Schule gehen, aber sie erträgt den Gedanken nicht, Gus mit Fremden allein zu lassen. Sie weiß, dass er jeden Moment sterben kann, und ist entschlossen, ihn nicht im Stich zu lassen, so wie ihre Mutter es getan hat. Sie will bei ihm sein, bis sich seine Augen für immer schließen, bis er nicht mehr um jedes bisschen Luft ringen muss.
    Gus’ Doppelbett ist durch ein Krankenhausbett ersetzt worden. Das erleichtert es den Hospizmitarbeitern, sich um ihn zu kümmern und die Bettwäsche zu wechseln. Und es macht es einfacher, ihn hinauszurollen, nachdem er gestorben ist, denkt Charm. Er sieht aus wie ein leerer Kokon, die Haut spinnenwebdünn und straff über sein Gesicht gespannt. Der Husten ist verstummt, und Gus liegt so still da, dass das leichte Heben und Senken seines Brustkorbs das einzige Zeichen dafür ist, dass er noch lebt.
    Charm fragt sich, ob ihre Mutter weiß, dass Gus im Sterben liegt, und wenn ja, ob es sie überhaupt interessiert. Sie fragt sich, was sie selbst tun wird, wohin sie gehen, was aus ihr werden wird. Auch wenn sie immer unabhängig war – ohne echte Mutter oder echten Vater –, hatte sie doch immer Gus.
    Sie spürt eine leichte Bewegung neben sich und schaltet die Nachttischlampe ein, damit sie Gus’ Gesicht sehen kann. In dem dämmrigen Licht, umgeben von all den Schatten, sieht Gus beinahe wieder wie er selbst aus. Jung, attraktiv, glücklich.
    „Wie geht es dir, Gus?“, fragte Charm ihn leise. Allein ihr zuzuhören scheint ihm Schmerzen zu verursachen. „Kann ich dir etwas bringen?“ Seine Augen sind offen und klar, und er versucht,eine Hand zu heben, um die Sauerstoffmaske beiseitezuschieben. „Lass mich das machen“, sagt sie und nimmt ihm die Maske ab, die ihn, wie sie ihn einst aufgezogen hat, aussehen lässt wie Horton, den Elefanten. Gus hat darüber gelacht. Er leckt sich über die trockenen, gesprungenen Lippen, und Charm schiebt ihm einen Strohhalm dazwischen, damit er etwas trinken kann. Die Anstrengung erschöpft ihn.

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