Vermächtnis des Schweigens (German Edition)
gar nicht erst zu uns gebracht“, sagt Charm und spricht endlich aus, was sie schon seit so langer Zeit empfindet. „Manchmal wünsche ich, ich hätte ihn nie in den Armen gehalten. Ich wünsche, ich hätte nie gewusst, dass er eine kleine Schwester hatte, die in den Fluss geworfen wurde. Ich wünsche, du würdest gesund werden.“ Charm schluckt einmal schwer, versucht, die Tränen zurückzuhalten, und birgt ihr Gesicht an seiner zerbrechlichen Schulter.
Mit großer Anstrengung legt Gus seinen anderen Arm um sie.
„Meine Tochter“, flüstert er. Mehr bleibt nicht zu sagen. Lange liegen sie dort so beisammen. Gus tätschelt ihr sanft den Rücken, und Charm genießt diese Streicheleinheiten wie eine Katze die letzten Strahlen der untergehenden Sonne.
ALLISON
Seit ich Joshua nach seinem Glitterunfall mit dem Zauberklebeband gerettet habe, ist er ständig an meiner Seite, wenn ich arbeite. Er bietet mir an, mir die Bücher anzureichen, die ich in die Regale einsortieren will, oder die Pennys in der Kasse zu zählen. In sehr kurzer Zeit habe ich die lange Liste all der Sachen entdeckt, die Joshua hasst und liebt. Er hasst es, wenn seine Finger klebrig sind, den Geruch von Bananen, Gewitter und sein Zimmer aufzuräumen. Er liebt Truman, mit Lego zu spielen, Dr Pepper zu trinken – auch wenn seine Mom sagt, dass ihm davon die Zähne im Mund verfaulen – und gemeinsam mit seinem Dad Sachen zu bauen.
Ich weiß, ich sollte versuchen, etwas Abstand zu ihm zu wahren. Eine engere emotionale Verbindung zu ihm aufzubauen kann nur im Chaos enden. Ich sollte ihm sagen, dass er sich schleichen soll, weil ich mich auf meine Arbeit konzentrieren muss, aber ich tue es nicht. „Was ist mit Fußball?“, frage ich und denke an das Foto von ihm in seinem grünen Fußballdress. „Magst du Fußball spielen?“
„Es ist ganz okay. Ich bin nicht sonderlich gut darin“, erklärt er traurig. „Immer schnappt mir jemand den Ball weg.“
„Ich könnte dir ein paar Tricks zeigen“, biete ich an. „Ich habe früher auch Fußball gespielt.“
„Okay.“ Joshua beugt sich vor, um Truman zu streicheln. „Ich bringe morgen meinen Fußball mit.“
„Ich denke, deine Mom wird sicher nicht wollen, dass wir im Laden spielen“, sage ich und bedauere es bereits, ihm meine Hilfe angeboten zu haben. Joshua wirkt ernüchtert – und enttäuscht.
„Du kannst zu uns nach Hause kommen“, sagt er und wirkt gleich wieder fröhlicher. „Du kannst mir das Fußballspielen beibringen, und ich zeige dir mein Zimmer und Daddys Werkstatt.“
„Ich weiß nicht …“ Ich wende den Blick von Joshua ab, als ich einen Kunden eintreten höre, und bin dankbar für die Ablenkung. Ich komme ihm zu nahe, lasse mich zu sehr auf ihn ein.
Ich sehe, wie Devin langsam auf mich zukommt. Von ihrer üblichen geschäftigen Art ist nichts zu spüren. Sie wirkt beinahe zögerlich. Überhaupt nicht wie sie selbst. Sie weiß es. Sie weiß von Joshua. Brynn hat sie angerufen und ihr erzählt, dass ich seine Mutter bin. Sie kommt, um mir zu sagen, dass ich ins Gefängnis zurückmuss. Ich denke, dass ich eher sterben würde.
„Josh, wieso gehst du nicht und machst deine Hausaufgaben?“, sage ich, als Devin vor mir stehen bleibt. Irgendetwas stimmt nicht.
„Wer ist das?“, will Josh wissen und stellt sich neben mich.
„Joshua, nervst du Allison?“, ertönt Claires Stimme hinter uns.
„Nein, ich helfe“, behauptet er.
„Allison“, sagt Devin sanft. „Kann ich kurz mit dir sprechen?“
Claire wirft uns einen besorgten Blick zu. Ich weiß, dass ich die beiden einander vorstellen sollte, aber die Worte bleiben mir im Hals stecken, also nicke ich nur und folge Devin nach draußen. Ich schließe die Augen und warte darauf, dass Devin mir sagt, dass sie mich jetzt zur Polizeistation bringen wird. Die Luft ist kalt, was ich als angenehm empfinde. Ich versuche, mir dieses Gefühl einzuprägen.
„Allison?“, wendet Devin sich an mich, und ich öffne die Augen. Sie beißt sich auf die Unterlippe, ringt nach Worten, und ich frage mich, ob ich noch Zeit haben werde, mich von Claire zu verabschieden, ihr für die Chance zu danken, die sie mir gewährt hat. Ich frage mich, ob ich Joshua jemals wiedersehen werde. „Allison.“ Sie greift nach meiner Hand. „Es geht um deinen Vater.“
„Meinen Vater?“ Ich bin verwirrt, senke den Blick und sehe Devins und meine Hände, die einander umfassen. Ein großer Diamant funkelt auf dem Ring an ihrem Finger. Sie wird
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