Vermächtnis des Schweigens (German Edition)
„Was noch?“, fragt sie. „Was kann ich noch für dich tun?“ Charm versucht, die Gefühle hinunterzuschlucken, die ihr die Kehle zuschnüren. Sie hat Patienten sterben sehen, hat Kinder sterben sehen, aber niemanden, den sie kannte. Niemanden, den sie geliebt hat.
„Nichts.“ Gus stöhnt. „Setz dich einfach zu mir.“ Schwach klopft er neben sich auf die Matratze. Charm zögert. Sie müsste das Seitengitter herunterlassen, das ihn davor bewahrt, aus dem Bett zu fallen, und außerdem ist nicht genug Platz, auch wenn Gus selbst so dünn wie das Präriegras vor seinem Fenster ist.
„Das geht schon“, sagt er.
Charm klappt das Gitter weg und schiebt Gus vorsichtig ein Stück zur Seite. Er gibt keinen Ton von sich, aber sein Gesicht ist schmerzverzerrt. „Tut mir leid, tut mir leid“, flüstert Charm, aber er klopft erneut auf die Matratze, um sie wissen zu lassen, dass alles in Ordnung ist. Charm versucht, sich so klein wie möglich zu machen, und quetscht sich neben ihn. „Willst du fernsehen?“, fragte sie und greift nach der Fernbedienung. Er schüttelt den Kopf. „Willst du die Maske wieder aufsetzen?“ Charm weiß, dass er es nicht lange ohne den zusätzlichen Sauerstoff aushält und schnell in Panik gerät, was es für ihn nur noch schwerer macht, Luft zu holen.
Erneut schüttelt er den Kopf. Wegen der Schwellungen sind seine einstmals scharfen Gesichtszüge kaum mehr zu erkennen. Sein dunkles Haar bildet einen starken Kontrast zu seiner blassen Haut, und die zerzausten Augenbrauen lassen seine Augen kleiner und eingesunkener wirken. Ein blauer Teich inmitten von Schilf.
„Erzähl“, fordert er sie auf seine ihm eigene Art auf. Er schafftes immer noch, bestimmend zu klingen, ohne dabei gemein zu wirken.
„Nun“, fängt Charm an. „Ich fange nächste Woche in der Orthopädie an. Und um Halloween herum werde ich auf der Kinderkrebsstation sein. Dann verkleiden sich alle, inklusive der Ärzte und Schwestern.“
Gus nickt, und sie sitzen eine Weile schweigend beisammen. Sie wissen beide, dass er an Halloween nicht mehr da sein wird.
„Der kleine Junge“, sagt Gus, und seine Stimme klingt so rau wie Sandpapier.
Charm wird das Herz schwer. Sie wusste, dass Gus das Thema Joshua noch mal anschneiden würde, anschneiden musste . Ein allerletztes Mal.
„Es tut mir leid.“ Seine Worte klingen atemlos und kommen ihm immer schwerer über die Lippen.
„Warum?“, fragt Charm ungläubig. „Was tut dir leid? Es war Christophers Schuld, Allison Glenns Schuld. Nicht deine. Joshua ist in Sicherheit. Er ist glücklich. Er ist bei Menschen, die ihn lieben.“ Wütend zählt sie die einzelnen Punkte an ihren Fingern ab. „Seine Mutter ist ins Gefängnis gekommen, weil sie seine Zwillingsschwester ertränkt hat. Du weißt, dass Christopher niemals zurückgekommen wäre, um sich um ihn zu kümmern, und Gott weiß, dass meine Mutter in der ganzen Angelegenheit überhaupt nicht zu gebrauchen gewesen wäre.“
„Schsch“, haucht Gus und legt seine Hand an ihre Wange. „Schsch, ist gut.“ Das ist zu viel für Charm – dass dieser kranke, verzweifelte Mann versucht, sie zu trösten. Sie war diejenige, die um mehr Zeit mit dem Baby gebettelt hat, aber ein paar Stunden waren zu Tagen geworden, dann zu drei Wochen. Charm hatte Gus immer um mehr Zeit angefleht, weil sie sicher war, dass ihr Bruder zu dem kleinen Jungen zurückkehren würde, an den sie so schnell ihr Herz verloren hatte. Sie fängt an zu weinen.
„Es tut mir leid“, schluchzt sie. „Ich hätte es dir sagen sollen. Ich hätte dir sagen sollen, dass ich ihn zur Feuerwache bringe.“ Hilflos sieht sie ihren Stiefvater an. „Ich konnte es nicht mehr. Ichwollte, aber ich konnte nicht. Ich war so müde. Ich wusste, dass wir zu lange gewartet hatten, um ihn zu einem sicheren Hafen zu bringen, und ich hatte Angst, dass wir Ärger bekommen würden, also habe ich dir nichts gesagt.“
„Du bist ein gutes Mädchen, Charm“, murmelte Gus. „Du bist klug und mutig. Mutiger, als ich es je war.“ Charm sieht ihn an. Über die Jahre hat Gus viele der entsetzlichen Feuer beschrieben, die er bekämpft hat. Den Rauch, die Flammen, die Hitze. „Du hast weiterhin nach dem kleinen Jungen geschaut, nachdem du ihn auf die Feuerwache gebracht hast. Du hast sichergestellt, dass es ihm gut geht.“
„Du hattest nicht mal die Chance, ihm Auf Wiedersehen zu sagen.“ Gus schweigt. Die Unterhaltung ermüdet ihn. „Manchmal wünsche ich, sie hätte ihn
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