Vermächtnis des Schweigens (German Edition)
heiraten, denke ich. Ich will ihr gerade gratulieren, da unterbricht sie mich.
„Er ist heute im Büro zusammengebrochen“, erklärt Devin. „Er ist jetzt im St. Isadore’s auf der Intensivstation. Sie sind sich noch nicht ganz sicher, was mit ihm los ist, aber es sieht aus wie ein Herzinfarkt.“ Fragend schaue ich sie an, und wie immerscheint Devin meine Gedanken lesen zu können. „Deine Mutter hat Barry angerufen. Mr Gordon.“ Ich nicke. Das klingt logisch. Mein Vater und Barry Gordon, der Seniorpartner von Devins Kanzlei, sind seit Jahren miteinander befreundet. „Willst du ins Krankenhaus?“, will Devin wissen. „Ich kann dich hinfahren.“
Ich denke an die letzte Begegnung mit meinem Vater zurück. Erinnere mich daran, wie jegliches Anzeichen meiner Existenz im Haus meiner Eltern ausgelöscht worden ist. „Ich weiß nicht, ob er mich sehen will“, erwidere ich leise.
„Was willst du, Allison?“, fragt Devin. „Was willst du tun?“
Plötzlich habe ich das dringende Bedürfnis, meinen Vater zu sehen. Was, wenn er stirbt? Ich kann nicht zulassen, dass ich meine Mutter das nächste Mal auf der Beerdigung meines Vaters sehe. Schnell erkläre ich Claire die Situation, sie umarmt mich und schickt mich weg. „Sag mir Bescheid, was passiert. Mach dir keine Sorgen wegen der Arbeit. Du musst jetzt bei deiner Familie sein.“
Ich kann ihr nicht sagen, dass sie in den wenigen Wochen, die ich wieder in Linden Falls bin, mehr Familie für mich geworden ist, als meine Eltern es je waren. „Danke“, bringe ich nur heraus. „Ich rufe dich später an.“
Devin lässt mich vor dem Eingang zum Krankenhaus raus. Sie bietet mir an, mitzukommen, aber ich lehne dankend ab, versichere ihr, dass ich alles im Griff habe. Aber das ist gelogen. Ich wollte nur einfach nicht, dass Devin Zeugin meines ersten Treffens mit meiner Mutter wird. Ich habe keine Ahnung, wie sie auf mein Auftauchen am Krankenbett meines Vaters reagieren wird. Ich weiß nicht, ob sie mich mit einer Umarmung willkommen heißen oder mir befehlen wird, sofort wieder zu gehen.
Das letzte Mal, als ich im St. Isadore’s Hospital war, habe ich mich von der Geburt erholt und stand wegen Mordes meiner neugeborenen Tochter unter Arrest. Ich habe das Krankenhaus in einem Rollstuhl verlassen, der von einem Vollzugsbeamten geschoben wurde, und meine Hände waren mit Handschellen aneinandergefesselt. Die Betriebsamkeit im Krankenhaus ist noch genauso, wie ich sie in Erinnerung habe. Schwestern und Ärzteeilen zielstrebig durch die Flure, Besucher bewegen sich etwas zögerlicher. Ich gehe zur Information, um zu fragen, auf welcher Station mein Vater liegt, und nehme dann die Treppe in den fünften Stock. Der Gedanke, einen stickigen, überfüllten Fahrstuhl zu betreten, der mich an meine Gefängniszelle erinnert, raubt mir den Atem.
Ich sehe sie zuerst. Sie sitzt allein auf einem langen Sofa im Warteraum der Intensivstation. Ihr Haar hat noch das gleiche schimmernde Blond, wie ich es in Erinnerung habe, aber es ist kürzer. Sie trägt einen Bob, Jeans und ihre schmutzverkrusteten Gartenclogs. Sie muss draußen gearbeitet haben, als der Anruf kam. Und sie muss sich beeilt haben, ins Krankenhaus zu kommen. Meine Mutter trägt in der Öffentlichkeit niemals Jeans und ihre Gartenschuhe, niemals außerhalb des Gartens. Blicklos starrt sie an die Wand des Warteraums, hat mich noch nicht wahrgenommen. Ihr Gesicht ist ein wenig weicher geworden, seitdem ich sie das letzte Mal gesehen habe, obwohl sie dünner ist, zerbrechlicher aussieht. Sie wirkt zerbrechlich, hilflos, und ich weiß, dass ich die Nerven verliere, wenn ich sie jetzt nicht anspreche.
„Mom“, sage ich leise, dann versagt mir die Stimme.
Sie erschrickt und sieht mich an. Während der vergangenen Jahre ist sie merklich gealtert, auch wenn sie immer noch sehr schön ist. „Allison“, sagt sie, und ich vermeine, einen Anflug von Erleichterung in ihrer Stimme zu hören. Eine weitere Einladung brauche ich nicht. Im Bruchteil einer Sekunde sitze ich neben ihr auf der Couch, lege ihr den Arm um die schmalen Schultern. Ich atme ihren Duft ein, eine Mischung aus dem Maiglöckchenparfüm, das sie trägt, und der Erde, in der sie gearbeitet haben muss, als der Anruf sie erreicht hat.
„Wie geht es Dad?“, frage ich unter Tränen. „Wird er wieder gesund?“
Meine Mutter schüttelt den Kopf.
„Ich weiß es nicht“, sagt sie hilflos. „Sie sagen mir nichts.“ Sie schaut auf ihre Hände. Ihre
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