Vermächtnis
anderen Menschen (einschließlich der Mutter) in unmittelbare Berührung kommt.
Eines der am häufigsten gebrauchten Transportmittel für Kinder ist im Westen der Kinderwagen, der keinen körperlichen Kontakt zwischen Baby und Pflegeperson ermöglicht (Abb. 39 ) . In vielen Kinderwagen liegt der Säugling nahezu waagerecht und manchmal mit rückwärts gewandtem Gesicht. Das Kind sieht die Welt also nicht so wie seine Pflegeperson. In den letzten Jahrzehnten haben sich in den Vereinigten Staaten verstärkt Vorrichtungen durchgesetzt, mit denen man Kinder in einer senkrechten (aufrechten) Position transportieren kann, beispielsweise Babytragen, Tragegestelle für den Rücken und Beutel, die vor der Brust getragen werden, aber auch in vielen dieser Vorrichtungen blickt das Kind nach hinten. Bei vielen traditionellen Transportmethoden dagegen, beispielsweise wenn das Kind in einer Schlinge oder auf den Schultern getragen wird, sitzt es in der Regel aufrecht, blickt nach vorn und sieht die gleiche Welt wie die Pflegeperson (Abb. 21 , 38 ). Der ständige Kontakt, auch wenn die Pflegeperson geht, das ständige gemeinsame Gesichtsfeld und der Transport in senkrechter Körperhaltung dürften dazu beitragen, dass !Kung-Säuglinge im Vergleich zu amerikanischen Kindern in manchen Aspekten ihrer neuromotorischen Entwicklung schneller vorankommen.
In warmem Klima ist der ständige Hautkontakt zwischen einem nackten Baby und einer nahezu nackten Mutter praktikabel. In kühleren Klimazonen ist dies schwieriger. Deshalb werden Säuglinge in ungefähr der Hälfte aller traditionellen Gesellschaften, vorwiegend in gemäßigten Klimazonen, gewickelt, das heißt, man hüllt das Kind in warmen Stoff ein. Das gewickelte Kind wird häufig auf einem Wiegenbrett festgebunden. Diese Praxis war früher auf der ganzen Welt und insbesondere bei Gesellschaften in hohen Breiten weit verbreitet. Grundsätzlich stand hinter dem Wickeln und dem Wiegenbrett der Gedanke, dass man das Kind als Schutz gegen die Kälte einwickeln wollte, wobei gleichzeitig seine Möglichkeiten, Körper und Gliedmaßen zu bewegen, eingeschränkt werden sollten. Bei den Navajo-Indianern erklären Mütter, die Wiegenbretter verwenden, den Zweck so: Das Kind soll zum Einschlafen gebracht werden, oder es soll weiterschlafen, wenn man es erst nach dem Einschlafen auf das Wiegenbrett legt. In der Regel fügt die Navajo-Mutter hinzu, das Wiegenbrett solle verhindern, dass das Kind im Schlaf plötzlich zusammenzuckt und dadurch aufwacht. Ein Navajo-Säugling liegt in den ersten sechs Lebensmonaten während 60 bis 70 Prozent der Zeit auf einem Wiegenbrett. Ähnliche Vorrichtungen waren früher auch in Europa allgemein üblich, verschwanden dort aber vor einigen Jahrhunderten.
Für uns moderne Menschen ist der Gedanke, ein Kind einzuwickeln oder auf ein Wiegenbrett zu schnallen, entsetzlich – oder er war es zumindest, bevor das Einwickeln kürzlich wieder in Mode kam. Die Vorstellung von persönlicher Freiheit bedeutet uns viel, und ein Wiegenbrett oder das Festbinden schränkt zweifellos die persönliche Freiheit eines Säuglings ein. Wir neigen zu der Annahme, Wiegenbretter oder das Festbinden müssten die Entwicklung eines Kindes beeinträchtigen und dauerhafte psychologische Schäden anrichten. In Wirklichkeit sind zwischen Navajo-Kindern, die auf einem Wiegenbrett gelegen haben, und anderen keine charakterlichen oder motorischen Unterschiede und auch keine Unterschiede im Alter des Laufenlernens festzustellen; das Gleiche gilt auch für Navajo-Kinder, die das Wiegenbrett erlebt haben, und angloamerikanische Kinder aus der Nachbarschaft. Dies ist vermutlich damit zu erklären, dass ein Säugling in dem Alter, in dem er zu krabbeln beginnt, ohnehin während des halben Tages nicht mehr auf dem Wiegenbrett liegt, und die meiste Zeit, in der das Kind auf dem Brett festgebunden ist, schläft es. Die Immobilisierung eines Säuglings auf dem Wiegenbrett führt dazu, dass es stets in der Nähe der Mutter bleibt, und ebenso wird es mitgenommen, ganz gleich, wohin die Mutter geht. Deshalb, so die Argumentation, ist die Abschaffung des Wiegenbrettes nicht mit echten Vorteilen im Hinblick auf Freiheit, Anregung oder neuromotorische Entwicklung verbunden. Im Westen schlafen Babys in der Regel in einem eigenen Zimmer; sie werden im Kinderwagen transportiert und liegen tagsüber in einer Wiege, so dass sie sozial häufig stärker isoliert sind als Navajo-Kinder auf ihrem
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