Vermächtnis
beherrschende Rolle.
In Horden von Jägern und Sammlern beginnt die Funktion der Ersatzeltern schon in der ersten Stunde nach der Geburt. Bei den Aka und Efe werden Neugeborene rund um das Lagerfeuer von Hand zu Hand, von einem Erwachsenen oder älteren Kind zum anderen weitergegeben, geküsst, gewiegt und mit Gesängen oder Worten bedacht, die es vermutlich nicht versteht. Anthropologen haben sogar gemessen, mit welcher durchschnittlichen Geschwindigkeit Säuglinge herumgereicht werden: Bei den Efe- und Aka-Pygmäen wird das Kind durchschnittlich achtmal in der Stunde weitergegeben. Bei Jägern und Sammlern teilen sich die Mütter die Kinderversorgung mit den Vätern und Ersatzeltern, darunter Großeltern, Tanten, Großtanten, andere Erwachsene und ältere Geschwister. Auch dies wurde von Anthropologen quantitativ erfasst: Sie ermittelten die durchschnittliche Zahl von Pflegepersonen. Für ein vier Monate altes Efe-Kind sind es im Laufe einer Beobachtungsphase von einigen Stunden 14 , für einen Aka-Säugling sieben oder acht.
In vielen Gesellschaften von Jägern und Sammlern bleiben Großeltern häufig bei Säuglingen und Kleinkindern im Lager, so dass die Eltern sich unbesorgt entfernen und Nahrung suchen können. Manchmal lässt man Kinder über Tage oder Wochen in der Obhut ihrer Großeltern. Hadza-Kinder, bei denen eine Großmutter zur Versorgung beiträgt, nehmen schneller zu als andere, bei denen dies nicht der Fall ist (Abb. 21 ) . Auch Tanten und Onkel sind in vielen traditionellen Gesellschaften wichtige Ersatzeltern. Bei den Bantu im südafrikanischen Okavangodelta geht der stärkste Einfluss eines älteren Mannes auf einen Jungen nicht vom Vater aus, sondern vom Onkel mütterlicherseits, dem ältesten Bruder der Mutter. In vielen Gesellschaften kümmern sich Brüder und Schwestern gegenseitig um ihre Kinder. Ältere Geschwister, insbesondere ältere Mädchen, spielen vor allem in Gesellschaften von Ackerbauern und Viehzüchtern häufig eine wichtige Rolle als Bezugspersonen für ihre jüngeren Brüder und Schwestern (Abb. 38 ) .
Daniel Everett, der viele Jahre in Brasilien bei den Piraha-Indianern lebte, meint dazu: »Der größte Unterschied [im Leben eines Piraha-Kindes im Vergleich zu amerikanischen Kindern] besteht darin, dass die Kinder der Piraha im ganzen Dorf herumlaufen und als Verwandte aller Bewohner gelten, so dass diese auch teilweise Verantwortung für sie haben.« Die Kinder der Yora-Indianer in Peru nehmen fast die Hälfte ihrer Mahlzeiten nicht mit den eigenen Eltern ein, sondern bei anderen Familien. Der Sohn amerikanischer Missionare, mit denen ich befreundet bin, war in einem kleinen Dorf in Neuguinea aufgewachsen und betrachtete dort alle Erwachsenen als seine »Tanten« oder »Onkel«; als seine Eltern ihn dann zur Highschool in die Vereinigten Staaten brachten, war das nahezu völlige Fehlen von Ersatzeltern für ihn ein großer Schock.
Wenn die Kinder in Kleingesellschaften älter werden, verwenden sie mehr Zeit auf längere Besuche bei anderen Familien. Einen solchen Fall erlebte ich, als ich die Vögel Neuguineas studierte und Einheimische als Träger einstellte, die meine Ausrüstung von einem Dorf zum nächsten transportieren sollten. Als ich in einem bestimmten Dorf ankam, verabschiedeten sich die meisten Träger aus dem vorherigen Dorf, die mich bis dorthin gebracht hatten, und ich fragte nach Hilfe von Personen beliebigen Alters, die ein Gepäckstück tragen konnten und sich Geld verdienen wollten. Der jüngste Freiwillige war Yuro, ein Junge von ungefähr zehn Jahren. Er schloss sich mir an und rechnete damit, sein Dorf für mehrere Tage verlassen zu müssen. Als wir aber mit einer Verspätung von einer Woche mein Ziel erreichten – der Weg war durch einen über die Ufer getretenen Fluss blockiert –, suchte ich erneut jemanden, der bei mir blieb und arbeitete, und wieder meldete sich Yuro. Am Ende blieb der Junge einen Monat bei mir, bis ich meine Untersuchungen abgeschlossen hatte; erst dann kehrte er in sein Dorf zurück. Als er mit mir aufbrach, waren seine Eltern nicht im Dorf gewesen, und deshalb kam Yuro einfach mit. Er wusste genau, die anderen Leute im Dorf würden seinen Eltern nach deren Rückkehr erzählen, dass er ein paar Tage weg war. Seine Freunde aus dem Dorf, die ebenfalls als Träger mitgekommen waren und dann ins Dorf zurückkehrten, teilten seinen Eltern nach mehr als einer Woche mit, dass er noch einen unbekannten Zeitraum länger bleiben
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