Vermächtnis

sagen: Die Kindererziehungsmethoden der Jäger und Sammler, die uns so fremdartig erscheinen, haben keine katastrophalen Folgen und bringen keine Gesellschaft aus offenkundig sozial gestörten Menschen hervor. Sie prägen vielmehr Menschen, die mit großen Herausforderungen und Gefahren umgehen können und sich dennoch ihres Lebens freuen. Die Lebensweise der Jäger und Sammler funktionierte während der nahezu 100 000 -jährigen Geschichte der verhaltensmäßig modernen Menschen zumindest einigermaßen gut. Bis zu den Anfängen der Landwirtschaft vor rund 11 000  Jahren waren alle Menschen auf der Welt Jäger und Sammler, und bis vor 5400  Jahren lebte niemand unter einer Staatsregierung. Die Lektionen, die wir aus all diesen langjährigen Experimenten mit der Kindererziehung lernen können, sind es zumindest wert, dass wir sie ernsthaft in Betracht ziehen.

Kapitel  6 Umgang mit alten Menschen: lieben, aussetzen oder töten?
    Die Alten
    Einmal war ich in einem Dorf auf der Fidschi-Insel Viti Levu zu Besuch. Dort entspann sich eine Unterhaltung mit einem Einheimischen, der in den Vereinigten Staaten gewesen war und mir seine Eindrücke mitteilte. Es gab im Leben der Amerikaner einige Aspekte, die er bewunderte oder beneidete, aber andere stießen ihn ab. Am schlimmsten fand er, wie wir ältere Menschen behandeln. In den ländlichen Gebieten auf den Fidschi-Inseln leben alte Menschen im Kreise ihrer Angehörigen und lebenslangen Freunde in dem Dorf, in dem sie während ihres ganzen Lebens zu Hause waren. Oft wohnen sie in einem Haus ihrer Kinder, die sich auch um sie kümmern – das geht so weit, dass einem alten Elternteil, dessen Zähne bis auf das Zahnfleisch verschlissen sind, das Essen vorgekaut und weich zubereitet wird. Mein Bekannter von den Fidschi-Inseln war empört darüber, dass alte Menschen in den Vereinigten Staaten in Altersheime geschickt werden, wo sie nur hin und wieder Besuch von ihren Kindern erhalten. Mir gegenüber platzte er vorwurfsvoll heraus: »Ihr werft eure alten Leute und eure eigenen Eltern weg!«
    Manche traditionellen Gesellschaften gestehen ihren älteren Menschen sogar eine noch höhere Stellung zu als die Fidschianer: Die Alten dürfen ihre erwachsenen Kinder tyrannisieren, bestimmen über das Eigentum der Gesellschaft und verhindern sogar, dass junge Männer vor ihrem 40 . Lebensjahr heiraten. In anderen Gesellschaften sind alte Menschen noch schlechter angesehen als in Amerika: Sie müssen hungern, werden ausgesetzt oder sogar aktiv umgebracht. Natürlich gibt es auch innerhalb jeder Gesellschaft viele individuelle Schwankungen: Ich habe in den Vereinigten Staaten einige Freunde, die ihre Eltern in einem Altersheim untergebracht haben und sie nur einmal im Jahr oder überhaupt nicht besuchen, während ein anderer Bekannter, der an seinem 100 . Geburtstag sein 22 . Buch veröffentlicht hatte, den Anlass in Gesellschaft aller seiner Kinder, Enkel und Urenkel feierte und diese auch sonst während des Jahres regelmäßig traf. Aber bei traditionellen Gesellschaften ist die Variationsbreite im normalen Umgang mit älteren Menschen noch größer als das Spektrum der individuellen Unterschiede in den Vereinigten Staaten. Ich kenne keinen Amerikaner, dessen engagierte Versorgung seiner betagten Eltern so weit gehen würde, dass er ihnen die Lebensmittel vorkaut, und ebenso kenne ich niemanden, der seine Eltern im hohen Alter erdrosselt hätte und dafür öffentlich als guter Sohn gepriesen worden wäre. Dass ältere Menschen in den Vereinigten Staaten ein schlechtes Leben führen, ist allgemein anerkannt. Können wir aus den Unterschieden zwischen den traditionellen Gesellschaften etwas lernen, entweder weil wir es nachahmen könnten oder weil wir es vermeiden sollten?
    Bevor ich fortfahre, möchte ich mich mit zwei Einwänden auseinandersetzen, die oft erhoben werden. Der eine besagt: Es gibt keine allgemeingültige Definition für das Alter, in dem ein Mensch »alt« ist: Auch hier gibt es Unterschiede zwischen den Gesellschaften und innerhalb dieser zwischen verschiedenen persönlichen Sichtweisen. In den Vereinigten Staaten beginnt das hohe Alter nach den gesetzlichen Definitionen mit 65  Jahren, wenn man Anspruch auf entsprechende Sozialleistungen hat. Als ich ein Teenager war, blickte ich zu Menschen Ende 20 auf, weil sie mir auf dem Höhepunkt von Leben und Klugheit zu stehen schienen; Menschen zwischen 30 und 40 schienen mir im mittleren Alter zu sein, und jeder ab etwa