Vermächtnis
Arktis- oder Wüstenbewohner ihre alten Menschen opfern. Manche Gruppen (darunter die !Kung und die afrikanischen Pygmäen) haben gegen ein solches Vorgehen offenbar einen größeren Widerwillen als andere (beispielsweise die Ache, Siriono und Inuit). Wie ein bestimmter älterer Mensch innerhalb einer Gruppe behandelt wird, dürfte teilweise auch davon abhängen, ob ein enger Angehöriger zur Verfügung steht, der die betreffende Person versorgen und verteidigen kann.
Wie wird man alte Menschen los, wenn sie zur Belastung geworden sind? Auch auf die Gefahr hin, dass mein Sprachgebrauch gefühllos oder grausam erscheint, muss ich fünf Methoden nennen, die man in der Reihenfolge einer zunehmend unmittelbaren Tat anordnen kann. Die passivste Methode besteht darin, alte Menschen einfach zu vernachlässigen, bis sie sterben: Man ignoriert sie, gibt ihnen kaum etwas zu essen, lässt sie hungern, lässt sie davonziehen oder in ihrem eigenen Schmutz sterben. Über diese Methode wurde beispielsweise von den Inuit in der Arktis, den Hopi in den nordamerikanischen Wüsten, den Witoto im tropischen Südamerika und den australischen Aborigines berichtet.
Die zweite Methode wurde in unterschiedlicher Form von den Lappen (Samen) in Nordskandinavien, den San in der Kalahariwüste, den nordamerikanischen Omaha- und Kutenai-Indianern und den Ache-Indianern im tropischen Südamerika praktiziert: Man lässt alte oder kranke Menschen absichtlich zurück, wenn die übrige Gruppe ihr Lager verlegt. Eine Variante dieser Methode war bei den Ache für alte Männer vorgesehen (aber nicht für alte Frauen – diese wurden regelrecht umgebracht): Man bringt die Männer aus dem Wald zu einer »Straße des weißen Mannes«, lässt sie fortgehen und hört nie wieder von ihnen. Häufiger wird eine geschwächte Person in einer Unterkunft oder in dem verlassenen Lager zurückgelassen und mit ein wenig Brennholz, Lebensmitteln und Wasser versorgt, und wenn die zurückgelassene Person ihre Kraft wiedergewonnen hat, kann sie versuchen, die übrige Gruppe einzuholen.
Der Anthropologe Allan Holmberg befand sich zufällig gerade in Bolivien bei einer Gruppe der Siriono-Indianer, als eine solche Aussetzung stattfand. Über die Geschehnisse berichtet er: »Die Horde entschloss sich, das Lager in Richtung des Rio Blanco zu verlegen. Als sie ihre Vorbereitungen für die Wanderung trafen, erregte eine Frau mittleren Alters meine Aufmerksamkeit. Sie lag in ihrer Hängematte und war so krank, dass sie nicht sprechen konnte. Ich erkundigte mich beim Häuptling, was man mit ihr tun wolle. Er verwies mich an ihren Ehemann, und der sagte mir, man werde sie sterben lassen, weil sie zu schwach zum Gehen sei und ohnehin sterben müsse. Der Abmarsch war für den folgenden Morgen angesetzt. Ich war anwesend und beobachtete das Ereignis. Die ganze Gruppe verließ das Lager, ohne der sterbenden Frau auch nur Lebewohl zu sagen. Selbst ihr Mann ging, ohne sich zu verabschieden. Man ließ sie mit Brennholz, einer Kalebasse voll Wasser und ihren persönlichen Habseligkeiten zurück, sonst nichts. Sie war zu krank, um zu protestieren.« Holmberg selbst war ebenfalls krank und begab sich zu einer Missionsstation, um sich medizinisch behandeln zu lassen. Als er drei Wochen später wieder an den Lagerplatz kam, war die Frau nicht dort. Er folgte einem Pfad zum nächsten Lagerplatz der Gruppe, und dort fand er die Überreste der Frau, von Ameisen und Geiern bis auf die Knochen abgenagt. »Sie hatte alles darangesetzt, der Horde zu folgen, aber sie war gescheitert und hatte das gleiche Schicksal erlitten, das alle Siriono ereilt, wenn ihre nützlichen Tage vorüber sind.«
Über eine dritte Methode, um ältere Menschen loszuwerden, wird von den Tschuktschen und Jakuten in Sibirien, den Crow-Indianern in Nordamerika, den Inuit und den Wikingern berichtet: Die ältere Person wird dazu ausgewählt oder aufgefordert, Selbstmord zu begehen, indem sie von einer Klippe springt, ins Meer geht oder den Tod im Kampf sucht. Der neuseeländische Arzt und Seemann David Lewis berichtet, wie ein in die Jahre gekommener Freund, der Steuermann Tevake von den Reef-Inseln im Südwestpazifik, sich offiziell verabschiedete und dann allein zu einer Reise mit dem Boot in See stach, von der er nicht zurückkehrte und offensichtlich auch nicht zurückkehren wollte.
Während diese dritte Methode einen nicht unterstützten Selbstmord beinhaltet, kann man die vierte als Sterbehilfe oder Mord auf Verlangen
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