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Vermächtnis

Vermächtnis

Titel: Vermächtnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
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ähnlich die kulturelle Selektion: Hier werden erlernte Verhaltensweisen weitergegeben, und Eltern dienen als Vorbilder für ihre Kinder. Deshalb ist es sinnvoll, dass Eltern für ihre Kinder Opfer bringen und unter Umständen sogar ihr eigenes Leben opfern, wenn sie damit dem Überleben und dem Fortpflanzungserfolg ihrer Nachkommen dienen. Umgekehrt haben betagte Eltern häufig Ressourcen, Status, Wissen und Fähigkeiten erworben, die ihren Kindern noch fehlen. Die Kinder wissen, dass es im genetischen und kulturellen Interesse ihrer Eltern liegt, ihnen durch Weitergabe dieser Ressourcen, Stellung, Kenntnisse und Fähigkeiten zu helfen. Demnach, so die Überlegung der Kinder, liegt es auch in ihrem Interesse, sich um die betagten Eltern zu kümmern, damit diese ihnen weiterhin helfen können. Allgemeiner gesagt, rechnet man in einer Gesellschaft miteinander verwandter Individuen damit, dass die jüngere Generation als Ganzes sich um ihre älteren Menschen kümmert, die ihre Kultur und viele Gene mit den Angehörigen der jüngeren Generation gemeinsam haben.
    Wir wissen aber, dass solche rosaroten Voraussagen nur teilweise stimmen. Ja, in der Regel versorgen Eltern ihre Kinder, diese versorgen umgekehrt oftmals ihre Eltern, und die jüngere Generation als Ganzes kümmert sich vielfach um ihre älteren Menschen. Aber diese Erkenntnisse treffen in den meisten Gesellschaften zumindest auf manche Kinder und in einigen Gesellschaften sogar auf die meisten Kinder nicht zu. Warum nicht? Was ist an unseren Überlegungen falsch?
    Wir haben den naiven Fehler gemacht (den Evolutionsbiologen heute vermeiden) und Interessenkonflikte zwischen den Generationen nicht berücksichtigt. Eltern sollten nicht immer unbegrenzt Opfer bringen, Kinder sollten nicht immer dankbar sein, Liebe hat ihre Grenzen, und Menschen sind keine darwinistischen Rechenmaschinen, die ständig die optimale Weitergabe ihrer Gene und Kultur kalkulieren und sich entsprechend verhalten. Alle Menschen, auch die älteren, wünschen sich nicht nur für ihre Kinder, sondern auch für sich selbst ein angenehmes Leben. Häufig gibt es Grenzen für die Opferbereitschaft, die Eltern gegenüber ihren Kindern aufbringen. Kinder sind umgekehrt häufig ungeduldig und wollen möglichst schnell ein angenehmes Leben führen. Sie stellen eine völlig richtige Überlegung an: Je mehr elterliche Ressourcen die Eltern selbst verbrauchen, desto weniger bleiben für die Kinder übrig. Selbst wenn Kinder sich tatsächlich instinktiv als darwinistische Rechenmaschinen verhalten, lehrt uns die natürliche Selektion, dass Kinder
nicht immer
ihre betagten Eltern versorgen sollten. Es gibt viele Umstände, unter denen Kinder die Weitergabe ihrer eigenen Gene oder Kultur begünstigen können, wenn sie ihren Eltern gegenüber geizig sind, sie aussetzen oder sie sogar töten.
    Warum aussetzen oder töten?
    In was für Gesellschaften »sollten« (nach diesem Gedankengang) Kinder (und die jüngere Generation im Allgemeinen) ihre Eltern (und die ältere Generation im Allgemeinen) vernachlässigen, aussetzen oder töten, und wann tun sie es auch? Die vielen Fälle, über die berichtet wurde, spielen in Gesellschaften, in denen ältere Menschen zu einer ernsthaften Last werden, die für die Sicherheit der gesamten Gruppe gefährlich ist. Eine solche Situation ergibt sich unter zweierlei Umständen. Einerseits trifft sie auf nomadisierende Jäger und Sammler zu, die von Zeit zu Zeit ihren Lagerplatz wechseln müssen. Da es keine Lasttiere gibt, müssen die Nomaden alles auf dem Rücken tragen: Babys, Kinder unter vier Jahren, die mit der Gruppe noch nicht Schritt halten können, Waffen, Werkzeuge, alle anderen materiellen Besitztümer sowie Lebensmittel und Wasser für unterwegs. Sich dann auch noch alte oder kranke Menschen aufzuladen, die selbst überhaupt nicht gehen können, ist schwierig oder unmöglich.
    Die zweite Situation ergibt sich in Umgebungen, insbesondere in den arktischen Regionen und in Wüsten, in denen es immer wieder zu einer ernsthaften Nahrungsknappheit kommt und in denen man keine Nahrungsvorräte anlegen kann, die so groß sind, dass die Gruppe während der Mangelperiode über die Runden kommt. Wenn nicht genug Nahrung vorhanden ist, um alle gesund oder auch nur am Leben zu erhalten, muss die Gesellschaft ihre am wenigsten wertvollen oder unproduktivsten Mitglieder opfern, damit nicht das Überleben aller gefährdet ist.
    Dennoch ist es nicht so, dass alle Nomaden und

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