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Vermächtnis

Vermächtnis

Titel: Vermächtnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
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60 war alt. Jetzt bin ich selbst 75 , ich halte meine Sechziger und frühen Siebziger für die beste Zeit meines Lebens, und das Alter scheint mir je nach meinem Gesundheitszustand irgendwann mit 85 oder 90  Jahren zu beginnen. In den ländlichen Gebieten Neuguineas jedoch, wo nur relativ wenige Menschen ein Alter von 60  Jahren erreichen, gelten schon Fünfzigjährige als alt. Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich einmal in ein Dorf im indonesischen Teil Neuguineas kam: Als die Leute dort erfuhren, dass ich (damals) 46  Jahre alt war, stöhnten sie »setengahmati!«, was »halbtot« bedeutet, und dann stellten sie mir einen Jungen im Teenageralter zur Seite, der ständig neben mir gehen sollte, damit ich nicht zu Schaden kam. Das »hohe Alter« muss also nach den Maßstäben der jeweiligen Gesellschaft definiert werden und nicht nach einer willkürlichen, allgemeingültigen Zahlenangabe.
    Im Zusammenhang mit diesem ersten Einwand steht auch der zweite. In Ländern, in denen die Lebenserwartung unter 40  Jahren liegt, könnte man sich vorstellen, dass nahezu niemand nach der US -amerikanischen Definition ein hohes Alter erreicht. In Wirklichkeit zeigte man mir in nahezu jedem neuguineischen Dorf, in dem ich Untersuchungen anstellte, eine oder zwei Personen, deren Alter man aufgrund ihrer Erinnerungen an Ereignisse mit feststehendem Datum (die beispielsweise zeigten, ob sie zur Zeit des großen Wirbelsturmes von 1910 schon gelebt hatten) auf über 70 schätzen konnte, und das selbst dann, wenn dort nur wenige Menschen mehr als 50  Jahre alt werden und jeder über Fünfzigjährige als »lapun«, »alter Mann«, bezeichnet wird. Diese Alten sind in der Regel gehbehindert, sehbehindert oder blind und auf Verwandte angewiesen, die sie ernähren; dennoch spielen sie (wie wir noch genauer erfahren werden) für das Dorfleben eine unverzichtbare Rolle. Ähnliche Beobachtungen gelten auch für andere traditionelle Völker: Kim Hill und A. Magdalena Hurtado rekonstruierten die Stammbäume von fünf im Wald lebenden Ache-Indianern aus Paraguay, die im geschätzten Alter von 70 , 72 , 75 , 77 und 78  Jahren gestorben waren, und Nancy Howell fotografierte einen !Kung, dessen Alter sie auf 82  Jahre berechnet hatte; der Mann konnte noch lange Strecken gehen, wenn seine Gruppe das Lager verlegte, sammelte seine Nahrung zum größten Teil selbst und baute seine eigene Hütte.
    Wie können wir das breite Spektrum unterschiedlicher Normen für die Behandlung älterer Menschen in verschiedenen Gesellschaften erklären? Wie wir noch genauer erfahren werden, liegen die Gründe zum Teil in den unterschiedlichen materiellen Faktoren, derentwegen ältere Menschen für eine Gesellschaft mehr oder weniger nützlich sind und die es auch für jüngere Menschen mehr oder weniger praktikabel machen, die Älteren zu unterstützen. Der zweite Grund hat mit den unterschiedlichen kulturellen Werten der verschiedenen Gesellschaften zu tun, so mit dem Respekt für ältere Menschen, dem Respekt für die Privatsphäre, der Bevorzugung der Familie gegenüber dem Individuum und der Eigenverantwortlichkeit. Diese Werte lassen sich aufgrund der materiellen Faktoren, die ältere Menschen zu etwas Nützlichem oder einer Belastung machen, nur teilweise voraussagen.
    Erwartungen im Zusammenhang mit der Versorgung Älterer
    Beginnen wir einmal mit einer naiven Erwartung an die Versorgung älterer Menschen. Diese Erwartung ist zwar offenkundig unvollständig, sie zu formulieren ist aber dennoch nützlich, denn sie zwingt uns zu fragen, warum und in welcher Hinsicht sie nicht erfüllt wird. Ein Laie mit einer rosigen Weltsicht könnte folgende Überlegung anstellen: Eltern und Kinder lieben einander und sollten sich lieben. Eltern bemühen sich nach besten Kräften um ihre Kinder und bringen Opfer für sie. Kinder respektieren die Eltern, die sie großgezogen haben, und sind ihnen dankbar. Deshalb könnten wir erwarten, dass Kinder auf der ganzen Welt ihre betagten Eltern gut versorgen.
    Zu der gleichen herzerfreuenden Schlussfolgerung könnte ein naiver Evolutionsbiologe durch einen anderen Gedankengang gelangen. In der natürlichen Selektion geht es darum, Gene weiterzugeben. Der kürzeste Weg, auf dem ein Mensch seine Gene weitergeben kann, verläuft über die Kinder. Demnach sollte die natürliche Selektion jene Eltern begünstigen, deren Gene dafür sorgen, dass sie mit ihrem Verhalten das Überleben und die Fortpflanzung ihrer Kinder fördern. Ganz

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