Vermächtnis
Jahreszeit zu Jahreszeit und Jahr für Jahr den gleichen Zugang zu Lebensmitteln haben. Natürlich stehen bestimmte Lebensmittel wie beispielsweise frisch geerntete, einheimische Kirschen auch uns nur je nach Jahreszeit wenige Wochen im Jahr zur Verfügung, aber die verfügbare Gesamtmenge an Lebensmitteln bleibt im Wesentlichen gleich. Für Kleingesellschaften dagegen gibt es unberechenbare gute und schlechte Tage; zu manchen Jahreszeiten ist mit Lebensmittelknappheit zu rechnen, was die Menschen mit bösen Vorahnungen voraussehen, und ebenso gibt es unvorhersehbare gute und schlechte Jahre. Deshalb ist die Nahrung ein wichtiges und fast ununterbrochenes Gesprächsthema. Anfangs wunderte ich mich darüber, dass meine Freunde unter den Fore sich so lange über Süßkartoffeln unterhielten, obwohl sie sich gerade erst satt gegessen hatten. Für die Siriono-Indianer in Bolivien sind Lebensmittel das beherrschende Thema aller Gedanken, und zwei der häufigsten Redewendungen lauten bei ihnen »mein Magen ist leer« und »gib mir etwas zu essen«. Sexualität und Ernährung stehen in ihrer Bedeutung bei den Siriono und uns aus dem Westen in umgekehrtem Verhältnis: Die größten Befürchtungen der Siriono betreffen die Nahrung; sexuell aktiv dagegen sind sie praktisch immer, wenn sie es wünschen, und die Sexualität stellt auch einen Ausgleich für den Hunger nach Nahrung dar. Bei uns ist Sexualität der Gegenstand der größten Befürchtungen, wir haben praktisch immer Lebensmittel, wenn wir es wünschen, und Essen kann zur Kompenstion sexueller Frustration dienen.
Anders als wir sind viele traditionelle Gesellschaften insbesondere in trockenen oder arktischen Regionen häufig mit vorhersehbarer oder unvorhersehbarer Nahrungsknappheit konfrontiert, und die Gefahr einer Hungersnot ist bei ihnen weitaus größer. Die Gründe für den Unterschied liegen auf der Hand. Viele traditionelle Gesellschaften verfügen kaum oder gar nicht über Vorräte von Lebensmittelüberschüssen, auf die sie zurückgreifen könnten; das liegt entweder daran, dass sie keine solchen Überschüsse produzieren können, oder Lebensmittel würden in warmem, feuchtem Klima schnell verderben, oder sie leben als Nomaden. Und Gruppen, die tatsächlich Überschüsse lagern könnten, laufen Gefahr, sie an Räuber zu verlieren. Traditionelle Gesellschaften sind durch lokale Missernten bedroht, denn sie können Lebensmittelressourcen nur aus einer kleinen Region zusammenführen, während wir als Bürger der Ersten Welt unsere Lebensmittel durch das ganze Land transportieren und sie noch aus den entferntesten Regionen importieren. Ohne Motorfahrzeuge, Straßen, Eisenbahn und Schiffe können traditionelle Gesellschaften ihre Lebensmittel nicht über große Entfernungen transportieren, sondern nur von engen Nachbarn beschaffen. Außerdem fehlen in traditionellen Gesellschaften die Regierungen, die Lagerung, Transport und Austausch von Lebensmitteln in großen Gebieten organisieren könnten. Wie wir aber noch genauer erfahren werden, verfügen auch traditionelle Gesellschaften über zahlreiche Wege, mit dem Risiko einer Hungersnot umzugehen.
Unvorhersehbare Nahrungsknappheit
Im kürzesten zeitlichen und kleinsten räumlichen Rahmen spielen sich die Schwankungen der Lebensmittelversorgung traditioneller Völker von Tag zu Tag je nach dem Jagderfolg ab. Pflanzen bewegen sich nicht fort und können von einem Tag zum nächsten mehr oder weniger zuverlässig gesammelt werden, aber da Tiere weglaufen, läuft jeder einzelne Jäger Gefahr, an einem Tag ohne Beute nach Hause zu kommen. Auf diese Unsicherheit haben nahezu alle Jäger und Sammler die gleiche Antwort gefunden: Sie leben in Horden mit mehreren Jägern zusammen, die ihre Beute teilen und so im Durchschnitt die starken, täglichen Schwankungen der Fangmengen jedes einzelnen Jägers ausgleichen. Richard Lee beschrieb diese Lösung aufgrund seiner eigenen Erlebnisse bei den !Kung in der afrikanischen Kalahariwüste, er stellte aber auch allgemeine Aussagen über Jäger und Sammler auf, die auf allen Kontinenten und unter unterschiedlichsten Umweltbedingungen leben: »Nahrung wird nie allein von einer einzigen Familie verzehrt; sie wird immer (tatsächlich oder potentiell) mit den Mitgliedern einer Gruppe oder Horde von bis zu 30 (oder mehr) Mitgliedern geteilt. Obwohl jeden Tag nur ein Teil der körperlich dazu fähigen Wildbeuter unterwegs ist, werden die Fleischerträge des Tages und die gesammelten
Weitere Kostenlose Bücher