Vermächtnis
Religion genauso untersuchen – ja, wir müssen sogar danach fragen –, wie wir nach dem Ursprung anderer ausschließlich menschlicher Eigenschaften wie Kunst und gesprochener Sprache forschen. Vor 6 Millionen Jahren waren unsere Vorfahren noch Menschenaffen, die sicher keine Religion besaßen; vor 5000 Jahren, als die ersten schriftlichen Dokumente entstanden, gab es die Religion bereits. Was geschah in den dazwischen liegenden 5 995 000 Jahren? Wie sahen die Vorstufen der Religion bei den Tieren und den Vorfahren der Menschen aus, und wann und warum entstanden sie?
Seit die wissenschaftliche Erforschung der Religionen vor ungefähr 150 Jahren begann, war ein Verfahren, das als funktioneller Ansatz bezeichnet wird, der von den Fachleuten am häufigsten verwendete gedankliche Rahmen. Sie fragten: Welche Funktionen erfüllt die Religion? Dabei fiel ihnen auf, dass Religion vom Einzelnen wie auch von der Gesellschaft oftmals einen hohen Preis verlangt: Sie zwingt beispielsweise viele Menschen, zölibatär zu leben und auf Kinder zu verzichten, mit großer Mühe und gewaltigem Aufwand riesige Pyramiden zu bauen, die eigenen wertvollen Haustiere sowie gelegentlich sogar ein eigenes Kind und sich selbst zu töten und viel Zeit darauf zu verwenden, immer und immer wieder die gleichen Worte auszusprechen. Als Gegengewicht zu diesem hohen Preis muss Religion eine Funktion und nützliche Wirkungen haben, ansonsten hätte sie weder entstehen noch erhalten bleiben können. Welche Probleme der Menschen wurden durch die Erfindung der Religionen gelöst? Kurz zusammengefasst, könnte der funktionelle Ansatz beispielsweise zu folgenden Behauptungen führen: Religion wurde erfunden, weil sie bestimmte Funktionen erfüllt und bestimmte Probleme löst, beispielsweise bei der Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Ordnung, der Beruhigung ängstlicher Menschen und um politischen Gehorsam zu lehren.
Dem widerspricht ein anderer Ansatz, der erst in jüngerer Zeit aus dem Fachgebiet der Evolutionspsychologie erwachsen ist. Er besagt: Religion ist in der Evolution nicht dazu entstanden und wurde auch nicht bewusst dazu erfunden, einem bestimmten Zweck zu dienen oder ein einzelnes Problem zu lösen. Es war nicht so, dass irgendein früher Häuptling eines Tages eine gute Idee hatte und die Religion aus dem Nichts erfand, weil er vorausgesehen hätte, dass er seine Untergebenen leichter unter Kontrolle halten konnte, wenn er sie dazu brachte, aus religiösen Gründen eine Pyramide zu bauen. Ebenso unwahrscheinlich ist es, dass ein psychologisch feinfühliger Jäger und Sammler besorgt war, seine Stammesgenossen könnten wegen des bevorstehenden Todes so deprimiert sein, dass sie nicht mehr auf die Jagd gingen, und dass er sich deshalb eine Geschichte über das Jenseits ausdachte, um sie zu trösten und ihnen neue Hoffnung zu vermitteln. In Wirklichkeit entstand Religion wahrscheinlich als Nebenprodukt anderer Fähigkeiten unserer Vorfahren und ihrer Vorfahren aus dem Tierreich; diese Fähigkeiten hatten dann unvorhergesehene Folgen und nahmen im Laufe der weiteren Entwicklung neue Funktionen an.
Für einen Evolutionsbiologen wie mich besteht zwischen diesen beiden unterschiedlichen Erklärungen für die Entstehung der Religion kein Widerspruch; eigentlich werden damit nur zwei verschiedene Stadien postuliert. Auch die biologische Evolution als solche verläuft in zwei Stadien. Erstens lassen Mutationen neue Unterschiede zwischen Individuen und neue Genkombinationen entstehen. Und zweitens ergeben sich durch natürliche Auslese und sexuelle Selektion Unterschiede zwischen den Individuen, was ihre Fähigkeit angeht, zu überleben, sich fortzupflanzen und ihre Gene an die nächste Generation weiterzugeben. Deshalb können manche dieser unterschiedlichen Individuen bestimmte Funktionen besser erfüllen und die Probleme des Lebens besser lösen als andere. Ein Funktionsproblem (zum Beispiel das Überleben in kaltem Klima) wird nicht gelöst, weil ein Tier erkennt, dass es einen dickeren Pelz braucht, und das kalte Klima regt auch keine Mutationen an, die einen dickeren Pelz entstehen lassen. Vielmehr lässt etwas (im Fall der biologischen Evolution die molekulargenetischen Mechanismen) etwas anderes (in diesem Fall ein Tier mit dickerem oder dünnerem Pelz) entstehen, und die Lebensbedingungen oder Umweltprobleme (in diesem Fall die niedrigen Temperaturen) sorgen dafür, dass manche dieser unterschiedlichen Tiere mit einer
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