Vermächtnis
Parallelwelt – oft eines Himmels, einer Hölle oder eines anderen Jenseits, in das wir nach unserem Tod in dieser natürlichen Welt übergehen. Manche Gläubige sind von der Existenz übernatürlicher Handlungskräfte so überzeugt, dass sie steif und fest behaupten, sie hätten Geister gesehen, gehört oder gespürt.
Wie mir jedoch bald klarwurde, war meine Definition unzureichend, und das aus ebenfalls aufschlussreichen Gründen. Der Glaube an übernatürliche Handlungskräfte ist nicht nur ein Kennzeichen von Religionen, sondern er ist auch typisch für Phänomene, die niemand als religiös bezeichnen würde, beispielsweise für den Glauben an Feen, Gespenster, Kobolde oder Außerirdische in Ufos. Warum ist es religiös, an Götter zu glauben, während wir den Glauben an Feen nicht unbedingt als religiös bezeichnen würden? (Ein Hinweis: Die Feengläubigen treffen sich nicht jede Woche an einem bestimmten Tag, um bestimmte Rituale zu vollziehen, sie bezeichnen sich selbst nicht als Gemeinde der Feengläubigen, die von den Feenskeptikern getrennt ist, und sie erklären sich nicht bereit, zur Verteidigung ihres Glaubens an Feen zu sterben.) Umgekehrt setzen manche geistigen Strömungen, die jeder als Religionen bezeichnen würde, keinen Glauben an übernatürliche Handlungskräfte voraus. Zahlreiche Juden (darunter auch Rabbiner), Unitarier, Japaner und andere sind Agnostiker oder Atheisten, bezeichnen sich aber selbst als Angehörige einer Religion und werden auch von anderen so eingeschätzt. Buddha brachte sich mit keiner Gottheit in Verbindung und behauptete, er würde »nur« den von ihm entdeckten Weg zur Erleuchtung lehren.
Meine Definition hatte den großen Schwachpunkt, dass sie ein zweites Attribut der Religionen außer Acht ließ: Sie sind auch soziale Bewegungen von Menschen, die nach eigener Auffassung tiefe Glaubensüberzeugungen teilen. Wer an einen Gott und eine lange Liste selbst erfundener Lehren glaubt und einen Teil jedes Sabbats darauf verwendet, allein in einem Zimmer zu sitzen, zu diesem Gott zu beten und ein Buch zu lesen, das er selbst geschrieben, aber keinem anderen gezeigt hat, praktiziert nach allgemeiner Einschätzung keine Religion. Die engste reale Entsprechung zu solchen Menschen sind die Einsiedler, die ganz allein leben und sich dem Gebet verschreiben. Aber solche Einsiedler gehen aus einer Gemeinschaft von Gläubigen hervor, aus der sie ihre Überzeugungen bezogen haben und deren Mitglieder den Einsiedler unter Umständen auch weiterhin unterstützen und besuchen. Mir ist kein Einsiedler bekannt, der aus dem Nichts eine eigene Religion entwickelt hätte, dann in die Wüste gezogen wäre, um dort allein zu leben, alle angebotenen Lebensmittel abgelehnt und Besucher vertrieben hätte. Wenn jemand mir einen solchen Eremiten zeigt, würde ich ihn als nichtreligiösen Einsiedler oder Menschenfeind einstufen; andere würden in ihm vielleicht einen typisch religiösen Eremiten sehen, der nur dem Kriterium der sozialen Gemeinschaft nicht entspricht.
Ein integriertes charakteristisches Merkmal vieler Religionen besteht darin, dass ihre Anhänger kostspielige oder schmerzhafte Opfer bringen, die anderen das Engagement des Anhängers für die Gruppe überzeugend vor Augen führen sollen. Bei dem Opfer kann es sich um Zeit handeln – man unterbricht beispielsweise fünfmal am Tag andere Tätigkeiten, um das Gesicht gen Mekka zu wenden und zu beten, oder man verbringt einen Teil jedes Sonntags in der Kirche, oder man lernt jahrelang komplexe Rituale, Gebete und Lieder auswendig (was möglicherweise voraussetzt, dass man eine Fremdsprache erlernt), oder man widmet sich als junger Erwachsener zwei Jahre lang der Missionstätigkeit (was von Mormonen erwartet wird), oder man schließt sich einem Kreuzzug oder einer Pilgerreise an, oder man reist auf eigene Kosten nach Mekka. Das Opfer kann auch in Geld oder anderem Eigentum bestehen, das der Kirche übereignet wird. Oder man opfert ein wertvolles Haustier: Beispielsweise bringt man Gott ein eigenes Lamm dar, bei dem es sich nicht um ein kostenlos gefangenes Wildtier handelt. Oder das Opfer besteht im Aufgeben des körperlichen Wohlgefühls oder der Unversehrtheit: Man fastet, schlägt sich ein Fingergelenk ab, beschneidet den Penis oder spaltet ihn der Länge nach, oder vergießt Blut, indem man die Nase, die Zunge oder den Penis abschneidet, oder einen Schnitt im Rachen oder einem anderen Körperteil anbringt. Alle diese aufwendigen
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