Vermächtnis
öffentlichen oder schmerzhaften Vorführungen sollen andere Gläubige davon überzeugen, dass man es mit dem Engagement für die Religion ernst meint und dafür, wenn nötig, sogar das eigene Leben opfert. Wenn ich dagegen nur rufe: »Ich bin Christ!«, lüge ich vielleicht um des persönlichen Vorteils willen (wie manche Häftlinge es in der Hoffnung tun, eine bedingte Strafaussetzung zu erreichen) oder um mein Leben zu retten. Das zweite und dritte Attribut (die soziale Bewegung und aufwendige Opfer) scheinen mir zwar notwendige Voraussetzungen zu sein, damit man eine geistige Strömung als Religion bezeichnen kann, sie reichen aber allein nicht aus. Es gibt auch nichtreligiöse gesellschaftliche Strömungen, die – wie beispielsweise der Patriotismus – ebenfalls tiefverwurzelte Überzeugungen hegen und von ihren Anhängern aufwendige Opfer fordern.
Als vorletztes Attribut von Religionen führt der Glaube an Götter und andere postulierte übernatürliche Handlungskräfte zu praktischen Auswirkungen auf das Verhalten der Menschen. Solche Verhaltensregeln können je nachdem, um was für eine Gesellschaft es sich handelt, die Form von Gesetzen, Moralkodices, Tabus oder Verpflichtungen annehmen. Es gibt sie in praktisch allen Religionen, nicht alle Verhaltensregeln entstammen aber ausschließlich der Religion: Auch die modernen, säkularen Staatsregierungen, unzählige nichtreligiöse Gruppen sowie Atheisten und Agnostiker haben ihre eigenen Regeln.
Und schließlich lehren viele Religionen nicht nur, dass übernatürliche Handlungskräfte tugendhafte Menschen für die Befolgung der Regeln belohnen und Übeltaten oder Regelübertretungen bestrafen, sondern dass man sie auch durch Gebete, Spenden und Opfer dazu veranlassen kann, zugunsten der sterblichen Bittsteller einzugreifen.
Zur Religion gehört also eine Konstellation aus fünf Attributen, die bei den verschiedenen Weltreligionen (einschließlich der Religionen traditioneller Völker) unterschiedlich stark gewichtet sind. Auf der Grundlage dieser Konstellation können wir verstehen, welche Unterschiede zwischen Religionen und mehreren ähnlichen Phänomenen bestehen, die einige Attribute der Religion, aber nicht alle, aufweisen. Patriotismus und ethnischer Stolz sind ähnlich wie die Religionen gesellschaftliche Strömungen, die zwischen Anhängern und Außenstehenden unterscheiden, Opfer (bis hin zum eigenen Leben) als Beweis für das Engagement fordern und mit Ritualen und Zeremonien gefeiert werden, bei den US -Amerikanern beispielsweise mit dem Independence Day, dem Thanksgiving Day und dem Memorial Day. Anders als die Religion lehren Patriotismus und ethnischer Stolz aber nicht den Glauben an übernatürliche Handlungskräfte. Sportfans bilden wie Religionsgemeinschaften Gruppen von Anhängern (beispielsweise die Fans der Boston Red Sox), die sich von den Anhängern anderer Gruppen (zum Beispiel den Fans der New York Yankees) abgrenzen, sich aber nicht auf übernatürliche Handlungskräfte berufen, als Beweis der Anhängerschaft keine großen Opfer verlangen und kein breites Spektrum moralischer Verhaltensweisen vorschreiben. Marxismus, Sozialismus und andere politische Strömungen ziehen (wie Religionen) Gruppen engagierter Anhänger an, motivieren diese, für ihre Ideale zu sterben, und haben möglicherweise auch einen weitgefassten Moralkodex, berufen sich aber nicht auf Übernatürliches. Magie, Zauberei, Aberglaube und Wasserzauber (die Überzeugung, man könne Wasser unter der Erde mit einer Wünschelrute aufspüren) umfassen den Glauben an übernatürliche Handlungskräfte und haben Folgen für das alltägliche Verhalten. Magie, Aberglaube und ähnliche Phänomene dienen aber nicht als definierende Kennzeichen engagierter sozialer Gruppen, die man mit Gläubigen vergleichen könnte: Es gibt keine Gruppen von Menschen, die an die Gefahren schwarzer Katzen glauben und sich jeden Sonntag treffen, um immer wieder ihre Abgrenzung von denen, die nicht an die Gefahren schwarzer Katzen glauben, zu bestätigen. In der vielleicht größten Grauzone stehen Strömungen wie Buddhismus, Konfuzianismus und Shintoismus, bei denen ein unterschiedliches Maß an Unsicherheit darüber besteht, ob sie Religionen oder aber Lebensphilosophien darstellen.
Funktionen und Zitteraale
Religion ist bei Menschen nahezu universell verbreitet, bei Tieren jedoch wurde nichts beschrieben, was ihr auch nur entfernt ähneln würde. Dennoch können wir die Ursprünge der
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