Vermächtnis
töteten fast eine Million Tutsi und den größten Teil des ruandischen Volkes der Twa, aber alle sprachen Ruandisch. Die weltweit schlimmsten Massenmorde überhaupt seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges ereigneten sich in Kambodscha, wo Khmer-sprechende Kambodschaner unter Befehl des Diktators Pol Pot etwa zwei Millionen ebenfalls Khmer-sprechende Landsleute hinmetzelten. Und mit die schlimmsten Massenmorde aller Zeiten wurden in Russland unter Stalin begangen, als Russen viele Millionen meist ebenfalls Russisch sprechende Menschen wegen angeblich abweichender politischer Ansichten ermordeten.
Wer also glaubt, dass Minderheiten ihre Sprache aufgeben und sich die Sprache der Mehrheit zu eigen machen sollten, um damit den Frieden zu fördern, der muss sich fragen, ob Minderheiten auch dadurch etwas für den Frieden tun sollten, dass sie ihre Religion, ihre ethnische Zugehörigkeit und ihre politischen Ansichten aufgeben. Angenommen, wir halten Freiheit der Religion, der ethischen Zugehörigkeit und der politischen Meinung für unveräußerliche Menschenrechte, die Freiheit der eigenen Sprache aber nicht: Wie erklären wir den Unterschied einem Kurden oder Frankokanadier? Neben Stalin, Pol Pot, Ruanda und dem früheren Jugoslawien warnen uns auch unzählige weitere Beispiele, dass Einsprachigkeit keine Gewähr für Frieden bietet.
Angesichts der Tatsache, dass Menschen sich in Sprache, Religion, ethnischer Zugehörigkeit und politischen Ansichten unterscheiden, gibt es zu Tyrannei und Massenmord nur eine einzige Alternative: Wir müssen in gegenseitiger Toleranz zusammenleben. Das ist keine leere Hoffnung. Trotz aller früheren Religionskriege leben Menschen unterschiedlicher Religion heute in den Vereinigten Staaten, Deutschland, Indonesien und vielen anderen Ländern friedlich zusammen. Und auch viele Länder, die sprachliche Toleranz praktizieren, können Menschen mit unterschiedlicher Sprache in Harmonie beherbergen: So gibt es zum Beispiel zwei Landessprachen in den Niederlanden (Niederländisch und Friesisch), zwei in Neuseeland (Englisch und Maori), drei in Finnland (Finnisch, Schwedisch und Sami), vier in der Schweiz (Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch), 43 in Sambia, 85 in Äthiopien, 128 in Tansania und 286 in Kamerun. Ich weiß noch, wie ich auf einer Reise nach Sambia ein Klassenzimmer einer Oberschule besichtigte; ein Schüler fragte mich: »Zu welchem Stamm in den Vereinigten Staaten gehören Sie?« Dann nannte mir jeder Schüler mit einem Lächeln seine Stammessprache. In der kleinen Klasse waren sieben Sprachen vertreten, und niemand war deshalb beschämt, verängstigt oder bereit, einen anderen zu töten.
Warum soll man Sprachen erhalten?
Nun gut, die Erhaltung von Sprachen ist also nicht zwangsläufig schädlich, abgesehen von der Anstrengung der Zweisprachigkeit für die Sprecher der Minderheitensprachen, und diese Menschen können selbst entscheiden, ob sie bereit sind, die Mühe auf sich zu nehmen. Aber hat die Erhaltung der Sprachenvielfalt auch eindeutige Vorteile? Warum lassen wir nicht einfach zu, dass die Welt sich auf die fünf führenden Sprachen Mandarin, Spanisch, Englisch, Arabisch und Hindi einigt? Oder treiben wir die Argumentation noch einen Schritt weiter, bevor meine englischsprachigen Leser begeistert »Ja!« rufen: Wenn man meint, kleine Sprachen sollten größeren Platz machen, wäre es die logische Konsequenz, dass wir alle uns das Mandarin zu eigen machen, die größte Sprache der Welt; das Englische würde dann aussterben. Welchen Nutzen hat es, die englische Sprache zu erhalten? Von den vielen Antworten möchte ich nur drei nennen.
Erstens: Wenn es mehrere Sprachen gibt, kann jeder Einzelne zwei- oder mehrsprachig sein. Die Befunde, wonach mehrsprachige Menschen kognitiv im Vorteil sind, habe ich zuvor in diesem Kapitel bereits erörtert. Selbst wenn man gegenüber der mutmaßlichen Schutzwirkung der Mehrsprachigkeit gegen Alzheimer skeptisch ist, weiß jeder, der mehrere Sprachen fließend spricht, dass die Beherrschung mehrerer Sprachen das Leben bereichert, genau wie ein größerer Wortschatz in der eigenen Hauptsprache das Leben stärker bereichert als ein kleiner. Verschiedene Sprachen haben unterschiedliche Vorteile: In manchen Sprachen ist es einfacher als in anderen, bestimmte Dinge auszudrücken oder bestimmte Empfindungen zu haben. Wenn die häufig diskutierte Sapir-Whorf-Hypothese stimmt, prägt die Struktur einer Sprache die Denkweise
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