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Vermächtnis

Vermächtnis

Titel: Vermächtnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
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ihrer Sprecher, und das hat zur Folge, dass man die Welt anders sieht und anders denkt, wenn man die Sprache wechselt. Der Verlust von Sprachen schränkt also nicht nur die Freiheit von Minderheiten ein; er beschränkt auch die Möglichkeiten der Mehrheit.
    Zweitens sind Sprachen das komplexeste Produkt des menschlichen Geistes; jede Sprache ist in ihren Lauten, Strukturen und Denkmustern anders. Aber die Sprache selbst ist nicht das Einzige, was verlorengeht, wenn sie ausstirbt. Literatur, Kultur und viele Kenntnisse sind in Sprache codiert. Die einzelnen Sprachen haben unterschiedliche Zahlensysteme, Gedächtnisstützen und Systeme der räumlichen Orientierung: Auf Walisisch oder Mandarin kann man beispielsweise leichter zählen als auf Englisch. Traditionelle Völker haben in ihrer lokalen Sprache die Namen für Hunderte von Tier- und Pflanzennamen aus ihrem Umfeld; diese Enzyklopädien der ethnobotanischen Informationen verschwinden mit der Sprache. Shakespeare kann man zwar ins Mandarin übersetzen, für uns englischsprechende Menschen wäre es aber ein Verlust für die Menschheit, wenn Hamlets berühmter Monolog »To be or not to be, that ist the question« nur noch in der Mandarin-Übersetzung zur Verfügung stünde. Auch Stammesvölker haben ihre eigene, mündlich überlieferte Literatur, und ein Verlust dieser Literatur wäre ein Verlust für die Menschheit.
    Manch einer denkt nun vielleicht immer noch: »Schluss mit diesem unbestimmten Gerede über sprachliche Freiheit, einzigartiges kulturelles Erbe und unterschiedliche Denk- und Ausdrucksmöglichkeiten. Das alles sind Luxusprobleme, die inmitten der Krisen unserer modernen Welt eine geringe Priorität haben. Solange wir die gravierenden sozioökonomischen Probleme nicht gelöst haben, können wir unsere Zeit nicht mit Bagatellen wie abgelegenen amerikanischen Ureinwohnersprachen vergeuden.«
    Aber denken wir bitte einmal an die sozioökonomischen Probleme der Menschen, die all diese abgelegenen amerikanischen Ureinwohnersprachen (und Tausende andere abgelegene Sprachen auf der ganzen Welt) sprechen. Sie sind der ärmste Teil der amerikanischen Gesellschaft. Sie haben nicht nur Arbeitsplatzprobleme, sondern umfassende Probleme mit dem kulturellen Zerfall. Gruppen, deren Sprache und Kultur zerfallen, verlieren Stolz und gegenseitige Hilfsbereitschaft, und sie geraten immer tiefer in sozioökonomische Schwierigkeiten. Man hat ihnen so lange erzählt, dass ihre Sprache und alles andere in ihrer Kultur wertlos ist, bis sie es selbst glauben. Für die Regierungen erwachsen daraus gewaltige Kosten für Sozialleistungen, medizinische Versorgung, Alkohol- und Drogenprobleme; das alles bedeutet einen hohen Aufwand für die Volkswirtschaft anstelle eines nützlichen Beitrags. Gleichzeitig leisten andere Minderheiten mit starker, intakter Kultur und erhalten gebliebener Sprache – darunter manche kürzlich in die USA eingewanderten Gruppen – schon heute einen großen Beitrag zur Wirtschaft, statt von ihr zu nehmen. Auch unter den Gemeinschaften der Ureinwohner sind solche mit intakter Kultur und Sprache in der Regel wirtschaftlich stärker, und sie stellen eine geringere Belastung für die Sozialsysteme dar. Cherokee-Indianer, die den Cherokee-Sprachunterricht abgeschlossen haben und in Cherokee und Englisch zweisprachig sind, verfolgen häufiger ihre Ausbildung weiter, bekommen Arbeitsplätze und beziehen höhere Einkommen als Cherokee, die nicht Cherokee sprechen. In Australien neigen Aborigines, die ihre traditionelle Stammessprache und -Kultur erlernen, weniger stark zum Suchtmittelkonsum als kulturell entwurzelte Ureinwohner.
    Programme, mit denen man die kulturelle Entwurzelung der Ureinwohner rückgängig macht, wären sowohl für die Minderheiten der amerikanischen Ureinwohner als auch für die Steuern zahlende Mehrheit wirksamer und billiger als Sozialleistungen. Im Gegensatz zu Sozialleistungen zielen solche Programme auf langfristige Lösungen. Ähnliches gilt für andere Länder, in denen heute Bürgerkriege entlang der Sprachgrenzen toben: Für sie wäre es billiger gewesen, es Ländern wie der Schweiz, Tansania und vielen anderen nachzumachen und die Partnerschaft zwischen stolzen, intakten Gruppen zu fördern, statt den Versuch zu unternehmen, Minderheitensprachen und -kulturen zu zerstören. Sprache als Mittelpunkt der nationalen Identität kann nicht nur für die Minderheiten innerhalb eines Landes über Fortbestand oder Verschwinden von Gruppen

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