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Vermächtnis

Vermächtnis

Titel: Vermächtnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
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Lager und lausche auf die letzten nächtlichen Vogelstimmen und auf den Gesang der Morgenvögel – aber wenn es regnet, sitze ich im Lager und warte darauf, dass der Regen aufhört; wann das sein wird, weiß niemand. Vielleicht hat ein Neuguineer aus dem nächsten Dorf mir gestern versprochen, »morgen« ins Lager zu kommen und mir die Namen der Vögel in seiner lokalen Sprache beizubringen: Er hat aber keine Armbanduhr, kann mir nicht sagen, wann er kommen wird, und kommt vielleicht überhaupt an einem anderen Tag. In Los Angeles dagegen ist das Leben stark von Zeitplänen geprägt. Mein Taschenkalender sagt mir, was ich an welchem Tag zu welcher Uhrzeit tun werde, und viele Einträge liegen noch Monate oder mehr als ein Jahr in der Zukunft. Den ganzen Tag strömen E-Mails und Anrufe auf mich ein und müssen ständig je nachdem, wie wichtig eine Antwort ist, in Stapel oder nummerierte Listen eingeordnet werden.
    Zu Hause in Los Angeles lege ich allmählich die gesundheitlichen Vorsichtsmaßnahmen ab, die ich mir in Neuguinea reflexhaft zu eigen gemacht habe. Ich presse nicht mehr beim Duschen die Lippen zusammen, damit ich mir nicht unabsichtlich die Ruhr zuziehe, weil ich mir ein paar Tropfen infiziertes Wasser von den Lippen geleckt habe. Ich muss nicht mehr so genau darauf achten, mir häufig die Hände zu waschen, und ich muss auch nicht im Auge behalten, wie Teller und Löffel im Lager abgewaschen werden oder wer sie angefasst hat. Ich beobachte nicht mehr jeden Kratzer auf meiner Haut, damit er sich nicht zu einem tropischen Geschwür entwickelt. Ich setze meine wöchentlich eingenommenen Malariamedikamente ab und trage nicht mehr ständig dreierlei Antibiotikapackungen mit mir herum. (Nein, alle diese Vorsichtsmaßnahmen sind nicht paranoid: Nur eine davon nicht zu beachten kann schwerwiegende Folgen haben.) Ich muss mich nicht mehr fragen, ob ein Zwicken im Bauch an einer Stelle im Dschungel, von der aus ich nicht rechtzeitig ins Krankenhaus käme, eine Blinddarmentzündung ankündigt.
    Aus dem Dschungel Neuguineas nach Los Angeles zurückzukehren _bedeutet für mich eine große Veränderung in meinem sozialen Umfeld: Die Wechselbeziehungen zu anderen Menschen sind nicht mehr so konstant, direkt und intensiv. Solange ich im Dschungel Neuguineas wach bin, habe ich nahezu ununterbrochen Einheimische im Abstand von wenigen Metern um mich herum und bin bereit, mit ihnen zu sprechen, ganz gleich, ob wir im Lager sitzen oder auf einem Pfad Ausschau nach Vögeln halten. Wenn wir miteinander reden, gehört jedem die volle Aufmerksamkeit des anderen; keiner ist abgelenkt, weil er auf einem Handy SMS schreibt oder E-Mails abruft. Die Gespräche im Lager wechseln in der Regel zwischen mehreren Sprachen hin und her, je nachdem, wer gerade anwesend ist, und selbst wenn ich die Sprache nicht beherrsche, muss ich wenigstens in allen diesen Sprachen die Namen der Vögel kennen. In der westlich geprägten Gesellschaft dagegen verwenden wir viel weniger Zeit darauf, von Angesicht zu Angesicht mit anderen Menschen zu sprechen. Schätzungen zufolge sitzt der durchschnittliche Amerikaner stattdessen jeden Tag acht Stunden vor einem Bildschirm (eines Computers, eines Fernsehers oder eines mobilen Geräts). Und wenn wir mit anderen Menschen interagieren, geschieht das meist indirekt durch E-Mail, Telefon, Textnachrichten oder (immer weniger) Briefe. Bei weitem die meisten zwischenmenschlichen Kontakte in den Vereinigten Staaten laufen einsprachig auf Englisch ab: Ich schätze mich glücklich, wenn ich mich jede Woche einige Stunden in einer anderen Sprache unterhalten kann. Natürlich bedeuten solche Unterschiede nicht, dass mir das direkte, intensive, allgegenwärtige, die volle Aufmerksamkeit fordernde, vielsprachige soziale Umfeld in Neuguinea ununterbrochen lieb wäre: Genau wie Amerikaner, so können auch Neuguineer nicht nur unterhaltsam, sondern auch frustrierend sein.
    Nachdem ich 50  Jahre zwischen den Vereinigten Staaten und Neuguinea gependelt bin, habe ich meine Kompromisse entwickelt und meinen Frieden gefunden. Körperlich verbringe ich ungefähr 93  Prozent meiner Zeit in den Vereinigten Staaten und gelegentlich auch in anderen Industriestaaten, und sieben Prozent meiner Zeit entfallen auf Neuguinea. Emotional verwende ich einen großen Teil meiner Zeit und meiner Gedanken auch dann auf Neuguinea, wenn ich mich in den Vereinigten Staaten aufhalte. Die Intensität Neuguineas könnte ich selbst dann kaum

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