Vermächtnis
übernehmen, sondern anderen die Schuld zuschieben. In Neuguinea konnte ich ungehindert aufwachsen, kreativ spielen und die Wildnis und Natur erkunden, und dabei bestand trotz aller Vorsicht das unvermeidliche Gefahrenelement, das in der risikoscheuen amerikanischen Durchschnittskindheit völlig fehlt. Ich hatte die erfüllteste Kindheit, die man sich vorstellen kann, eine Kindheit, die für Amerikaner unvorstellbar ist.«
»Eine Frustration geht hier in den USA von dem ständigen Druck zu arbeiten aus. Wenn man nachmittags herumsitzt und eine Tasse Kaffee genießt, soll man sich schuldig fühlen, weil man eine Gelegenheit zum Geldverdienen verpasst hat. Aber wenn man zu diesen Menschen gehört, die ständig Geld verdienen, statt eine Tasse Kaffee zu genießen, spart man das zusätzlich verdiente Geld nicht, sondern man führt ein teureres Leben, so dass man immer mehr arbeiten muss. Die Vereinigten Staaten haben (zum größten Teil) die Fähigkeit verloren, das Gleichgewicht zwischen Arbeit und Spiel oder Entspannung zu finden. In Neuguinea schließen die Geschäfte über Mittag, und am späten Nachmittag machen sie wieder auf. Das ist äußerst unamerikanisch.«
»Ich war erschrocken über das Fehlen eines moralischen Kompasses bei meinen Altersgenossen in den USA . In einer so pluralistischen Gesellschaft wie Amerika gibt es kaum eine Basis, auf die man sich berufen kann, wenn man sagt, was man für richtig und falsch hält. Auch in Neuguinea wird die Wahrheit natürlich unter kulturellen Gesichtspunkten interpretiert und angewandt, aber man erkennt an, dass sie existiert und dass man sie kennen kann.«
»Die Kinder hier in den Vereinigten Staaten und vielleicht die Amerikaner im Allgemeinen sind versessen auf Waren. Als wir das letzte Mal zurück nach Kalifornien kamen, waren wir beeindruckt von den neuesten Moden oder ›Must-haves‹, in diesem Fall den großen Flachbildfernsehern. Was kommt in einem halben Jahr?«
»In den USA sitzt jeder in seiner eigenen kleinen Schachtel. Die jungen Afrikaner, die ich kennengelernt habe, interessierten sich sehr dafür, was in anderen Teilen der Welt los war, und kannten sich geographisch gut aus. Zum Zeitvertreib fragten wir einander nach der Lage verschiedener Länder, den Namen politischer Führungsfiguren und Sportstars. Natürlich kannten sie die Namen der kenianischen Fußball-Nationalspieler und Marathonläufer, aber ebenso vertraut waren sie mit amerikanischen, britischen, deutschen und brasilianischen Superstars. Sie hatten schon vom Lone Ranger, Wilt Chamberlain und Muhammad Ali gehört und fragten mich ständig, wie das Leben in den Vereinigten Staaten abläuft. Als ich zum ersten Mal in die USA kam, rechnete ich damit, dass man mich nach dem Leben in Afrika fragen würde, aber schon bald wurde mir klar, dass nur die wenigsten sich für irgendetwas interessierten, was sie nicht in ihrem Alltagsleben direkt betraf. Lebensweisen, Sitten und Ereignisse in anderen Teilen der Welt waren nur von untergeordnetem Interesse, und ich lernte, nicht mehr über Afrika zu sprechen. Viele Menschen in den USA haben eine Menge Dinge erworben, aber was ihr Wissen und Verständnis für die übrige Welt angeht, sind sie arm. Anscheinend haben sie sich hinter den Mauern einer sorgfältig aufgebauten, selektiven Unwissenheit komfortabel eingerichtet.«
Was können wir lernen?
Nahezu während der gesamten Geschichte des verhaltensmäßig modernen
Homo sapiens
, der vor 60 000 bis 100 000 Jahren entstand, hat die Welt von gestern unsere Gene, unsere Kultur und unser Verhalten geprägt. Wie man aus den archäologischen Belegen ableiten kann, spielten sich Veränderungen von Lebensweise und Technologie äußerst langsam ab, bevor sie sich mit den ersten Anfängen der Landwirtschaft vor rund 11 000 Jahren im Fruchtbaren Halbmond allmählich beschleunigten. Die ältesten Staatsregierungen entwickelten sich erst vor etwa 5400 Jahren, und zwar wiederum im Fruchtbaren Halbmond. Unser aller Vorfahren lebten also bis vor 11 000 Jahren in der Welt von gestern, und für die Vorfahren vieler heute lebender Menschen galt das sogar noch bis vor sehr kurzer Zeit. In den bevölkerungsreichsten Regionen Neuguineas setzte der unmittelbare Kontakt zur Außenwelt erst in den letzten Generationen ein, und für einige verbliebene Gruppen in Neuguinea und im Amazonasgebiet existieren unmittelbarer Kontakt nach außen und staatliche Regierungsmacht bis heute nicht.
Natürlich begleitet uns die
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