Vermächtnis
sollte aber nun nicht glauben, dieses Nichterscheinen und die Verschiebungen seien typische Kennzeichen der einmalig ineffizienten Justiz von Papua-Neuguinea: Einer meiner engen Bekannten, der kürzlich in Chicago vor Gericht stand, erlebte in seinem Strafprozess einen ähnlichen Ablauf und ein ähnliches Ergebnis.
Schadenersatz in Neuguinea
Der traditionelle Schadenersatzprozess, den ich hier am Beispiel von Billy und Malo erläutert habe, hat eine schnelle, friedliche Beilegung des Konflikts, die emotionale Versöhnung der beiden Parteien und die Wiederherstellung ihrer früheren Beziehungen zum Ziel. Für uns hört sich das einfach, natürlich und reizvoll an, bis wir darüber nachdenken, wie grundlegend es sich von den Zielen unserer staatlichen Justiz unterscheidet. Im traditionellen Neuguinea gab es keine staatliche Justiz, keine Staatsregierung, kein zentralisiertes politisches System und keine professionellen Führungspersonen, Bürokraten oder Richter, die eine Entscheidungsgewalt ausüben oder für sich ein Gewaltmonopol beanspruchen konnten. Wenn Staaten Meinungsverschiedenheiten beilegen und unter ihren Bürgern Gerechtigkeit walten lassen, verfolgen sie dabei ihre eigenen Interessen. Diese staatlichen Interessen stimmen nicht zwangsläufig mit den Interessen der Konfliktbeteiligten überein. Die traditionelle Justiz Neuguineas dagegen ist selbstgemacht – sie wird von den Beteiligten und ihren jeweiligen Anhängern eingerichtet. Der Schadenersatzprozess ist das friedliche Gleis in einem zweigleisigen System der traditionellen Konfliktlösung. Das andere (Kapitel 3 und 4 ) besteht darin, dass man gewaltsam persönliche Vergeltung übt, was in der Regel zu einem Kreislauf der Gegenvergeltung und schließlich zum Krieg eskaliert.
Der traditionelle neuguineische Schadenersatzprozess hat ein entscheidendes Merkmal, das ihn von Konflikten im Westen unterscheidet: Bei nahezu allen traditionellen Meinungsverschiedenheiten in Neuguinea kennen die Beteiligten sich schon vorher, entweder weil sie bereits eine Art persönliche Beziehung gepflegt haben oder weil sie zumindest den Namen des anderen, den Namen seines Vaters oder seine Gruppenzugehörigkeit kennen. Selbst wenn beispielsweise ein Neuguineer den Mann in dem wenige Kilometer entfernten Dorf, der sein im Wald herumstreifendes Schwein getötet hat, nicht persönlich kennt, hat er sicher schon einmal seinen Namen gehört, er weiß, zu welchem Clan er gehört und kennt persönlich einige Mitglieder dieses Clans. Das liegt daran, dass Neuguinea traditionell aus kleinen, räumlich begrenzten Gesellschaften von einigen Dutzend oder wenigen hundert Personen bestand. Traditionell behielten die Menschen ihren Wohnort während des ganzen Lebens bei, oder sie zogen aus bestimmten Gründen, beispielsweise zur Eheschließung oder um bei Verwandten zu leben, über kurze Entfernungen um. Die traditionellen Neuguineer trafen, anders als wir in unseren modernen Gesellschaften, nur selten oder nie mit völlig »Fremden« zusammen. Aber wir leben im Westen auch in Gesellschaften von Millionen Menschen; deshalb begegnen wir täglich Mitgliedern unserer eigenen Gesellschaft, die wir zuvor nicht kannten, und müssen mit ihnen umgehen. Selbst in dünn besiedelten ländlichen Gebieten, wo alle Bewohner einander kennen wie im Big Hole Basin in Montana, wo ich als Teenager meine Sommerferien verbrachte, tauchen regelmäßig Fremde auf – beispielsweise fährt jemand durch den Ort und hält an, um zu tanken. Außerdem legen wir zum Arbeiten, im Urlaub oder einfach aus persönlicher Vorliebe große Entfernungen zurück, und damit erleben wir mehrmals in unserem Leben eine nahezu vollständige Umwälzung unseres Bekanntenkreises.
Während also in staatlichen Gesellschaften die meisten Meinungsverschiedenheiten, die sich beispielsweise aus Autounfällen oder geschäftlichen Transaktionen ergeben, zwischen Fremden ablaufen, die sich zuvor nicht gekannt haben und voraussichtlich nie wieder miteinander zu tun haben werden, ist das Gegenüber in einem Konflikt im traditionellen Neuguinea stets jemand, mit dem man auch in Zukunft tatsächlich oder potentiell eine Beziehung unterhalten wird. Im Extremfall ist der Gegner im Konflikt beispielsweise ein Bewohner des eigenen Dorfes, den man regelmäßig trifft und dem man im täglichen Umgang nicht aus dem Weg gehen kann. Zumindest aber ist die Gegenpartei jemand, mit dem man zwar in Zukunft nicht regelmäßig zusammentreffen wird (wie
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