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Vermächtnis

Vermächtnis

Titel: Vermächtnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
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entfernter Horden beteiligt sind); damit steigt die Gefahr, dass der Konflikt sich zu dem entwickelt, was im Staate die Entsprechung zum Krieg ist: einem Prozess. Aber Prozesse und Urteile sind teuer, ihr Ausgang ist nicht vorhersagbar, und selbst die Beteiligten von Einmalgeschäften stehen unter einem gewissen Druck, sich zu einigen.
    Eine weitere Parallele zwischen den Konfliktlösungsmechanismen staatlicher und nichtstaatlicher Gesellschaften finden wir im Fall internationaler, zwischenstaatlicher Meinungsverschiedenheiten (im Gegensatz zu Konflikten zwischen Bürgern desselben Staates). Manche derartigen Konflikte werden heute unter Zustimmung der beteiligten Regierungen vom Internationalen Gerichtshof entschieden, bei anderen bedient man sich im Wesentlichen im größeren Maßstab des traditionellen Verfahrens: Man führt direkte oder vermittelte Verhandlungen zwischen den Parteien, die sich bewusst sind, dass ein Scheitern der Verhandlungen zur Kehrseite eines solchen Mechanismus führen kann, dem Krieg.
    Zwischen staatlicher Ziviljustiz gibt es also einige Parallelen. Wie steht es mit den Unterschieden? Der wichtigste wird erkennbar, wenn ein ziviler Konflikt vom Verhandlungsstadium zum Prozess übergeht: Dem Staat geht es in dem Gerichtsverfahren nicht in erster Linie um emotionale Klärung, die Wiederherstellung guter Beziehungen oder darum, dass die Konfliktparteien gegenseitig mehr Verständnis für ihre Gefühle haben; das gilt selbst dann, wenn es sich bei den Parteien um Geschwister, zerstrittene Ehepartner, Eltern und Kinder oder Nachbarn geht, die in den jeweils anderen emotional viel investiert haben und für den Rest ihres Lebens miteinander zurechtkommen müssen. In bevölkerungsreichen Staatsgesellschaften, in denen Millionen Bürger füreinander Fremde sind, laufen natürlich die allermeisten Konflikte zwischen Menschen ab, die zuvor keine Beziehung zueinander hatten, nicht mit einer zukünftigen Beziehung rechnen und nur im Rahmen des Ereignisses, das zu dem Konflikt geführt hat, zusammengetroffen sind: Kunde und Verkäufer, zwei Autofahrer, die in einen Verkehrsunfall verwickelt sind, ein Verbrecher und sein Opfer, und so weiter. Dennoch schaffen das Ausgangsereignis und die nachfolgenden juristischen Abläufe in diesen beiden fremden Personen ein emotionales Erbe, und der Staat tut wenig oder nichts, um solche Gefühle zu lindern.
    In einem Gerichtsverfahren geht es vielmehr in allererster Linie um Recht und Unrecht (Abb.  16 ) . Ist ein Vertrag der Gegenstand, wird gefragt, ob der Beklagte ihn gebrochen hat oder nicht. Und wenn es um ein unerlaubtes Verhalten geht, stellt sich die Frage: Hat der Beklagte fahrlässig gehandelt und hat er überhaupt den Schaden verursacht? Interessant ist hier der Unterschied zwischen der ersten Frage, die der Staat stellt, und dem Fall von Malo und Billy. Billys Angehörige erkannten an, dass Malo nicht fahrlässig gehandelt hatte, aber sie verlangten dennoch Schadensersatz, und Malos Arbeitgeber erklärte sich sofort einverstanden, die Zahlung zu leisten – schließlich wollten beide Parteien nicht um Recht oder Unrecht diskutieren, sondern sie hatten das Ziel, eine frühere Beziehung (beziehungsweise in diesem Fall eine frühere Nicht-Beziehung) wiederherzustellen. Dieser Aspekt der Friedensprozesse in Neuguinea gilt auch für viele andere traditionelle Gesellschaften. Der oberste Richter Robert Yazzie sagte zum Beispiel über die Nation der Navajo, eine der bevölkerungsreichsten Gemeinschaften der nordamerikanischen Ureinwohner: »Die westliche Rechtsprechung will klären, was geschehen ist und wer es getan hat; wenn Navajo Frieden schließen, geht es um die Auswirkungen des Geschehenen. Wer wurde verletzt? Welche Gefühle hat es verursacht? Was kann man tun, um den Schaden zu reparieren?«
    Wenn der Staat im ersten Schritt festgestellt hat, ob der Beklagte in einem Zivilprozess juristisch verantwortlich ist, wird im zweiten Schritt der Schaden berechnet, den der Beklagte angerichtet hat, weil er einen Vertrag gebrochen hat, fahrlässig war oder aus anderen Gründen zur Rechenschaft zu ziehen ist. Die Berechnung hat den Zweck, »den Kläger in den vorigen Stand zu versetzen« – das heißt, soweit es überhaupt möglich ist, soll für den Kläger wieder der Zustand hergestellt werden, in dem er gewesen wäre, wenn es den Vertragsbruch oder die fahrlässige Handlung nicht gegeben hätte. Nehmen wir beispielsweise an, ein Verkäufer hätte einen

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