Vermählt mit einem Fremden
imstande, ihr gegenüberzutreten, banale Phrasen zu dreschen, zu fragen, wie es ihr ergangen sei, oder eine Ausrede für seine Abwesenheit über die Lippen zu bringen. Und auch nur zu erwägen, dass er die Nacht mit ihr verbringen wollte … Sie würde ihn zum Teufel schicken, wenn sie erfuhr, dass er gerade für einen Feind des Landes die Flucht arrangiert hatte.
Diesbezüglich hatte sich die Hektik der letzten Tage gelohnt; alles Nötige war beisammen, um Captain Henri die Heimreise zu ermöglichen, dem Mann, der noch in einem der Gästezimmer verborgen saß. Ein auf Ehrenwort aus dem Lager entlassener Kriegsgefangener, hatte er seine Ehre Ehre sein lassen, weil ihn anscheinend zwingende Gründe dringend heim nach Frankreich riefen; welche, war Lucius ziemlich einerlei. Ehre war ein teures Gut, wie er am eigenen Leibe erfahren durfte. Wenn Captain Henri zurzeit nicht seinem Ehrenkodex entsprechend handeln konnte, so hatte er, so beschämend es war, tiefstes Verständnis für ihn, denn er selbst war in der gleichen Situation, verstrickt in ein Netz aus ehrabschneiderischen Intrigen, das seiner ganzen Erziehung widersprach.
Lucius verbannte diese Gedanken; häufig genug schon quälten sie ihn in seinen Träumen. Von dem Schurken Noir manipuliert, mit Marcus’ Tod konfrontiert … Bisher hatte er sein Leben selbst gelenkt, nun schien er wie eine Marionette an den Fäden anderer zu tanzen. Und er sah keinen Ausweg, der nicht allen, die ihm etwas bedeuteten, Kummer verursachen würde. Wie war es nur dazu gekommen?
Und da war Harriette … wie enttäuscht sie ausgesehen hatte, als er ohne weitere Erklärung abgereist war. Dabei hatte er sich nichts mehr gewünscht, als sie bei sich zu haben. Wie warm und einladend ihr Mund gewesen war! Schon gleich nach seinem Aufbruch hätte er am liebsten den Ruf der Pflicht ignoriert und wäre umgekehrt, um mit heißen Küssen die Farbe zurück in ihre Wangen zu bringen.
Immer stand ihr Bild vor seinen Augen; schwankend zwischen Bewunderung ob ihres Mutes und der Furcht davor, dass sie log, konnte er sein heftiges körperliches Verlangen nach ihr doch nicht abschalten. Er konnte es nicht leugnen: Ihn trieb ein unlöschbares Bedürfnis zu ihr, dem sie ebenso leidenschaftlich begegnete. Würde er je einen Ausweg aus diesem Sumpf von Widersprüchen finden?
Wer hätte ahnen können, dass sich aus Marcus’ Tod derartige Komplikationen entwickelten? Und dabei bohrte der Schmerz über den Verlust ungebrochen in ihm, und die Erinnerung an den Bruder wühlte ihn immer noch zutiefst auf.
Er öffnete eine Lade des Schreibtischs und zog ein gefaltetes Blatt heraus, zusammen mit einer Miniatur. Das Schreiben, von offiziellem Charakter, schob er zur Seite – er kannte den Inhalt auswendig – und betrachtete grübelnd das Bildnis. Es zeigte, von Meisterhand gemalt, eine sehr junge Frau, fast noch ein Mädchen, mit klaren blauen Augen und blonden Locken, die ihr, nur mit einem Band zusammengefasst, über die Schultern fielen. Die flache Büste betonte ihre Kindhaftigkeit; nur der Schnitt von Mund und Kinn zeugte von Entschlossenheit. Auf der Rückseite des Bildes stand Marie-Claude de la Roche geschrieben.
Unwillig den Kopf schüttelnd, verschloss er Bild und Schreiben schließlich wieder in dem Fach. Was konnte er schon tun, abgesehen von den zwielichtigen Verhandlungen, auf die er sich eingelassen hatte?
Er würde Captain Henri die Passage nach Frankreich verschaffen, und der würde im Gegenzug versuchen, Noir auszukundschaften. Welch ein elender Wirrwarr!
Was Harriette anging, so hielt sie ihn doch sowieso schon für einen Landesverräter! Er lächelte bitter. Plötzlich fühlte er sich außerstande, das alles noch objektiv zu betrachten. Wie sehr es ihn trieb, sich ihr anzuvertrauen! Konnte er es wagen? Er brauchte dringend jemanden, mit dem er von seinen Befürchtungen sprechen, mit dem er die Last teilen konnte. Harriette mit ihrem kühlen, klaren Kopf würde ihm raten können.
Sein Herz, das in jäher Hoffnung höhergeschlagen hatte, sank ihm erneut. Nein, es war viel zu gefährlich, Harriette von der Zwickmühle zu erzählen, in der er steckte. Was, wenn sie es ihrem Cousin gegenüber erwähnte? Er wettete jede Summe, dass der es nicht für sich behalten, sondern es in der Schmugglerzunft verbreiten würde; dann konnte es per Zufall auch Noir zu Ohren kommen, und der wiederum hatte ja schon mit Sanktionen gedroht, falls nicht Schweigen bewahrt wurde.
So hockte er hier also mit
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