Vermählung um Mitternacht
Gefühlen mehr nachgegeben hat als alle anderen.«
Julia schenkte der Haushälterin Tee nach. »Ich bin überhaupt nicht empfindsam. Was man mir immer wieder vorhält.«
»So ein Unsinn!« entgegnete Mrs. Winston treuherzig. »Ich glaube, dass Sie eine sehr empfindsame Natur haben.«
»O nein. Mein Vater hat immer gesagt, ich sei ein harter Knochen.« Julia lachte. »Er hatte Recht. Nicht um alles in der Welt könnte ich mich in einen Nervenanfall hineinsteigern. Ich weine nur, wenn ich müde bin.« Sie blickte in ihre Tasse und fügte hinzu: »Oder betrunken.«
Die Haushälterin fuhr zusammen: »Betrunken?«
»Rumpunsch. Tödliches Zeug, aber so wohlschmeckend.«
Mrs. Winston lachte unsicher. »Aber Mylady, was Sie alles reden! Ich bin sicher, dass Sie über genauso viel Empfindsamkeit verfügen, wie es einer Dame ansteht.« Abwesend nahm die Haushälterin noch ein Törtchen. »Genau wie Miss Anna. Als der alte Lord sie nach dem Tod ihres Schotten nach Hause holte, hat sie monatelang getrauert, ging nur in Schwarz und hat auf dem Piano nur Trauermärsche gespielt.«
»Das war bestimmt schwer zu ertragen. Ich kann düstere Musik nicht ausstehen.«
»Es war eine traurige Zeit damals. Miss Anna konnte Master Alec nicht angucken, ohne zu weinen; sie meinte, er habe die Augen seines Vaters. Seine Lordschaft war schon damals recht unternehmungslustig, und Tränen fand er albern. Es hat nicht lang gedauert, und er ist davongerannt, sobald er seine Mutter kommen sah.«
Julia nickte. Das bestätigte nur ihren Eindruck: Alec würde es nicht begrüßen, wenn man sich voll Gefühl an ihn klammerte. Sie würde gut daran tun, sich das zu merken.
Die Haushälterin tupfte sich einen Krümel vom Kinn. »Um alles noch schlimmer zu machen, setzte es sich der alte Herr in den Kopf, dass Miss Anna jetzt nur noch eine Saison in London helfen könne, also packte er sie und das Kind in eine Kutsche, und los ging’s.« Julia dachte an all die Gesellschaften und Bälle, an denen sie teilgenommen hatte. Mit all den anderen Anstandsdamen in eine Ecke verbannt zu sein, hatte zumindest den Vorteil, dass man die Ereignisse leidenschaftslos und fast ohne jede Ablenkung verfolgen konnte. »Die Aufregungen der Saison sind für ein trauriges Herz aber nicht das Richtige.«
»Wie wahr! « rief Mrs. Winston mit vollem Mund. Sie schluckte geräuschvoll. »Miss Anna wurde nur noch elender zu Mute. Und der alte Lord ahnte nicht, dass schon Gerüchte im Umlauf waren. Die Leute wussten, dass sie mit ihrem hübschen jungen Mann nach Schottland durchgebrannt und mit einem Kind zurückgekehrt war.« Ihre Miene verfinsterte sich. »Die Leute sagten, Master Alec sei aus Miss Annas schändlicher Verbindung mit einem Stallburschen hervorgegangen.«
Mit lautem Klirren stellte Julia ihre Tasse ab. »Die Leute können ja so dumm sein! Hoffentlich hat der Earl diesem Unsinn rasch ein Ende gesetzt.«
»Niemand traute sich, es ihm zu erzählen. Aber Miss Anna fand es heraus und schien entschlossen, die Gerüchte zu bestätigen. Sie wurde immer wilder, verschwand mit den unpassendsten Männern und blieb bis zur Morgendämmerung weg. Alles ging so schnell, dass der alte Lord gar nicht wusste, wie ihm geschah. Und als er herausfand, was die Leute redeten, war er so außer sich vor Zorn, dass er mit Miss Anna und Master Alec die Stadt verließ.«
»Ohne dem Gerede ein Ende zu bereiten?«
Die Haushälterin nahm noch einen Bissen von dem Törtchen. »Klatsch und Tratsch lassen sich nicht aufhalten, Mylady. Noch im selben Monat wurde Miss Anna krank und starb. Der Arzt meinte, es seien die Masern gewesen, aber ich glaube, ihr Herz war gebrochen.«
Julia fragte nicht nach, wie man ein gebrochenes Herz mit Masern verwechseln konnte.
Mrs. Winston seufzte. »Der arme Master Alec musste mit der Schande seiner Mutter leben. Und Kinder können ja so grausam sein. Sie haben ihn gehänselt und Bemerkungen über seine Herkunft gemacht - lauter schlimme Sachen. Ich weiß gar nicht, wie oft der arme Master Alec von der Schule verwiesen wurde, weil er sich geprügelt hat.«
»Das kann ich mir vorstellen. Der Ärmste. Wie belastend das für ein Kind sein muss. Gut, dass er diesen Unsinn hinter sich gelassen hat.«
»Von wegen. Man möchte es nicht glauben, aber diese ekelhaften Gerüchte verfolgen ihn noch heute. Fast als würde jemand diese Geschichten von Zeit zu Zeit aufwärmen, damit niemand sie vergisst. Und Master Alec ist Miss Anna ähnlich genug, um beweisen zu
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