Vermiss mein nicht
freundliches Gespräch geführt – um ihn von der Suche nach Sandy abzubringen, hatte Dr. Burton gedroht, Jack wegen Belästigung und noch allerlei anderen Dingen anzuzeigen. Danach lief Jack noch eine Weile durch Dublin und sprach Gloria eine Nachricht aufs Band, dass er noch ein paar Tage unterwegs sein würde und dass die Sache kompliziert, aber sehr wichtig war. Er wusste, dass sie ihn verstehen würde. Dr. Burtons Drohungen hatten ihn dazu veranlasst, den geplanten Besuch bei Sandys Eltern in Leitrim erst einmal zu verschieben, und jetzt hoffte er, seine Gedanken und Ideen mit Mary teilen zu können. Er war unsicher, ob er mit der Suche weitermachen sollte. Wenn die Leute, die Sandy gut kannten, sich keine Sorgen machten, jagte er vielleicht doch nur seinen eigenen Schatten. Mary lud Jack sofort ein, noch eine Nacht in Bobbys Zimmer zu verbringen, und jetzt saßen sie zusammen im Wohnzimmer und sahen sich ein Video von einer Theateraufführung in Bobbys sechster Klasse an. Dabei fiel ihm auf, dass der Junge ein sehr ungewöhnliches Lachen hatte, ein lautes Kichern, das tief aus dem Bauch kam und allen in seiner Nähe mindestens ein Lächeln abrang. Als Mary das Video ausschaltete, merkte auch Jack, dass er unwillkürlich grinste.
»Er macht so einen fröhlichen Eindruck«, bemerkte Jack.
»O ja!« Sie nippte an ihrem Kaffee und nickte enthusiastisch. »Und so war er auch. Ständig hat er Witze gemacht, immer den Klassenclown gespielt. Wenn sein loses Mundwerk ihn in Schwierigkeiten gebracht hat, hat sein Lachen ihn wieder rausgeholt. Die Leute haben ihn geliebt.« Lächelnd sah sie zu dem Foto auf dem Kaminsims – Bobby, der mit weit offenem Mund herzlich lachte. »Es war ansteckend, genau wie bei seinem Großvater.«
Auch Jack lächelte, und gemeinsam betrachteten sie das Bild.
Schließlich wurde Mary wieder ernst. »Ich muss Ihnen aber etwas gestehen.«
Jack schwieg und war nicht sicher, ob er wissen wollte, was sie ihm zu sagen hatte.
»Ich kann sein Lachen nicht mehr hören«, sagte sie fast flüsternd, als würde es umso wahrer, je lauter sie es aussprach. »Früher hat es das ganze Haus erfüllt, mein Herz, meinen Kopf, jeden Tag, von früh bis spät. Wie kann es sein, dass ich es nicht mehr höre?«
Sie sah Jack an, aber an dem verlorenen Blick in ihren Augen erkannte er, dass sie keine Antwort von ihm erwartete. Dann schüttelte sie den Kopf, als hätte sie gerade vergeblich auf das Lachen gelauscht.
»Ich erinnere mich noch, wie ich mich
gefühlt
habe, wenn Bobby lachte. Ich erinnere mich, welche Atmosphäre ein einziges kurzes Kichern von ihm im Raum geschaffen hat. Ich erinnere mich daran, wie andere Leute reagiert haben. Ich kann ihre Gesichter sehen und die Wirkung, die es auf sie ausübte. Ich kann sein Lachen auf den Videos hören, ich kann es auf den Fotos sehen, vermutlich höre ich sogar manchmal ein Echo davon im Lachen anderer Menschen. Aber ohne all das, ohne Fotos und Videos und Echos, zum Beispiel wenn ich nachts im Bett liege, kann ich mich nicht mehr daran erinnern. Sosehr ich mich auch anstrenge, es funktioniert nicht, in meinem Kopf entsteht nur ein Klangbrei, den ich mir aus dem Gedächtnis zusammenmische. Aber ich kann suchen, so viel ich will, ich habe die Erinnerung verloren …« Ihre Stimme erstarb. Wieder sah sie zu dem Foto auf dem Kamin und legte den Kopf schief, als horchte sie. Dann schüttelte sie den Kopf und sank resigniert in sich zusammen.
* * *
Bobby und ich saßen auf der Couch in Helenas Haus. Die anderen waren alle schon ins Bett gegangen, nur Wanda hatte sich zu uns geschlichen und versteckte sich hinter dem Sofa, völlig aufgedreht, weil ihr geliebter Bobby heute im gleichen Haus übernachtete wie sie. So weit es ging, ignorierten wir sie, in der Hoffnung, dass es ihr irgendwann langweilig wurde und sie endlich einschlief.
»Machst du dir Sorgen wegen der Versammlung morgen Abend?«, fragte Bobby. Inzwischen waren wir so vertraut miteinander, dass ich ihm das Du angeboten hatte.
Ich schüttelte den Kopf. »Ich weiß ja nicht mal, was für einen Grund ich haben könnte. Schließlich hab ich nichts Falsches getan.«
»Du hast nichts Falsches getan, aber du weißt so viel, und das macht manche Leute unruhig. Sie wollen wissen, woher und warum du das alles weißt.«
»Dann sage ich ihnen eben, dass ich eine sehr gesellige Person bin. Ich reise in Irland herum und unterhalte mich mit Freunden und Familien von vermissten Menschen«,
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