Vermiss mein nicht
und Helena erschien, im Bademantel, völlig verschlafen, mit zerzausten Haaren und zutiefst betroffenem Gesicht. An der Tür blieb sie stehen und musterte Bobby, um sich zu vergewissern, dass sie richtig gehört hatte. Seine Miene sagte alles, und sie lief mit ausgestreckten Armen zu ihm, setzte sich neben ihn auf die Couch, drückte seinen Kopf an ihre Brust und wiegte ihn wie ein Baby, während er weinte und schluchzend immer wieder hervorstieß, dass man ihn vergessen hatte.
Ich aber saß auf der anderen Seite des Sofas und zupfte an meinem Faden. Mit jeder Minute, die ich hier war, wurde er länger, und ich konnte nichts dagegen tun, dass sich alles immer weiter aufdröselte.
Vierzig
Meine Erfahrung hat mir gezeigt, dass viele Turbulenzen in unserem individuellen Leben zu einer größeren Ausgewogenheit in der Welt insgesamt führen. Das heißt, ganz egal, wie unfair ich etwas finde, merke ich, wenn ich mir das größere Ganze ansehe, dass es irgendwie hineinpasst. Mein Vater hatte ganz recht, wenn er sagte, dass man keine Mahlzeit wirklich umsonst bekommt, denn für
alles
muss man bezahlen. Wenn man etwas dazubekommt, muss es zuvor an anderer Stelle weggenommen werden. Wenn man etwas verliert, wird es irgendwo anders gefunden. Natürlich kann man endlos über letztlich unlösbare Fragen diskutieren wie zum Beispiel, warum guten Menschen etwas Schlechtes widerfährt. Aber ich sehe in allem Schlechten auch etwas Gutes, und umgekehrt in allem Guten auch etwas Schlechtes, selbst wenn es zunächst nicht zu erkennen oder schlicht unverständlich ist. Als Menschen sind wir die Verkörperung des Lebens, und das Leben besteht aus Gegensätzen, die ein Gleichgewicht bilden. Leben und Tod, Männlich und Weiblich, Gut und Schlecht, Schön und Hässlich, Gewinn und Verlust, Liebe und Hass. Verlieren und Finden.
Abgesehen von dem Weihnachtstruthahn, den es immer als Siegespreis beim Pub-Quiz im Leitrim Arms gab, hat mein Vater sein Leben lang nie etwas gewonnen. Aber an dem Tag, als Jenny-May Butler verschwand, gewann er fünfhundert Pfund im Lotto. Vielleicht hatte er etwas Gutes verdient.
Es war an einem Sonntagabend in den Sommerferien, eine Woche vor Schulbeginn. Mir graute bei dem Gedanken, wieder in die Schule zu müssen, denn ich genoss es in vollen Zügen, morgens ausschlafen und den Tag über tun und lassen zu können, was mir beliebte. In dieser wundervollen, zeitlosen Zeit waren die sonst so gefürchteten Sonntagabende nicht von Freitag oder Samstag zu unterscheiden, aber obwohl ich noch Ferien hatte, war mir an diesem Abend äußerst unbehaglich zumute. Um zwanzig vor sieben war es noch hell draußen, auf der Straße spielten die Nachbarskinder und dachten nicht daran, welcher Tag heute war, denn es war sowieso klar, dass der nächste mindestens genauso schön werden würde wie der letzte. Meine Mutter und meine Großeltern saßen im Garten und genossen die letzten warmen Strahlen der Abendsonne, während ich mir am Küchentisch nervös ein Glas Milch einverleibte und darauf wartete, dass es endlich an der Tür klingelte. Um mich abzulenken, beobachtete ich die Wäsche, die sich in der Waschmaschine drehte, und versuchte als Ablenkung, die einzelnen Kleidungsstücke im Vorbeihuschen zu erkennen.
In unregelmäßigen Abständen kam mein Dad aus dem Fernsehzimmer zu mir in die Küche, um seiner neuen Diät zum Trotz an der Keksdose zu naschen. Ich wusste nicht, ob es ihm nebenbei auch darum ging, mich im Auge zu behalten, oder ob er nur feststellen wollte, ob ich seine Klauerei bemerkte. Auf alle Fälle hatte er mich schon dreimal gefragt, was mit mir los sei. Ich hatte nur die Achseln gezuckt und behauptet, mit mir sei gar nichts los. Ich wusste, dass es nichts genutzt hätte, ihm von meinem Problem zu erzählen. Wahrscheinlich hatte es ihn argwöhnisch gemacht, dass ich vorhin, als es geklingelt hatte, so hektisch aufgesprungen war (meine Mum hatte aus Versehen die Tür hinter sich zugezogen), und jetzt versuchte er mich aufzuheitern, indem er Grimassen schnitt, während er sich die Kekse in den Mund stopfte. Ich grinste ihm zuliebe, was ihn so weit zufriedenzustellen schien, dass er wieder im Fernsehzimmer verschwand, diesmal mit einem Jaffa Cake in der Jackentasche.
Tja, wisst ihr, ich wartete nämlich darauf, dass Jenny-May vorbeikam.
Sie hatte mich zu einer Runde King/Queen herausgefordert, einem Spiel, das wir immer mit einem Tennisball auf der Straße spielten. Dabei wurden mit Kreide Kästchen auf
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