Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vermiss mein nicht

Vermiss mein nicht

Titel: Vermiss mein nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cecelia Ahern
Vom Netzwerk:
und auf Jenny-May und mich warteten. Als mein Vater zufällig aus dem Fenster sah, merkte er wohl, was los war, denn er schenkte mir ein halbherziges Lächeln. Dann stellte er die Keksdose auf den Küchentisch, setzte sich zu mir und mampfte.
    Um sieben begannen draußen alle nach uns zu rufen. Das heißt, man hörte zwar hin und wieder auch meinen Namen, aber meist wurde er von Jenny-Mays Anhängern übertönt. Mein Leben lang hat sich ihr Name in meinen Ohren lauter angehört als mein eigener. Plötzlich brandete lauter Jubel auf, und ich nahm an, dass Jenny-May gerade das Haus verlassen hatte. Doch dann erstarb der Jubel, man hörte Stimmen, die sich unterhielten, und schließlich wurde es totenstill. Dad sah mich an und zuckte die Achseln. Es klingelte an der Haustür. Diesmal sprang ich nicht auf, denn ich hatte sofort das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte. Dad tätschelte meine Hand. Ich hörte, wie meine Mutter an die Tür ging und freundlich jemanden begrüßte. Dann hörte ich Mrs. Butlers Stimme, die allerdings nicht so munter klang. Auch Dad merkte es, stand auf und ging hinaus in die Halle. Auf einmal hörten sich alle Stimmen besorgt an.
    Ich weiß nicht warum, aber ich blieb sitzen, ich konnte einfach nicht vom Tisch weg. Ich saß da und überlegte zwar noch, wie ich dem von Jenny-May angesetzten Wettkampf entgehen könnte, aber gleichzeitig hatte ich das absurde Gefühl, dass ich keine Ausrede brauchen würde. Die Atmosphäre hatte sich vollkommen verändert, zum Schlechten, das spürte ich, aber ich empfand die gleiche Erleichterung, wie wenn man in die Schule kommt und erfährt, dass der Lehrer krank ist. Keine Sekunde lang macht man sich Sorgen um den Lehrer.
    Nach einer Weile ging die Küchentür auf, und Dad, Mum und Mrs. Butler kamen herein.
    »Schätzchen«, begann Mum leise. »Weißt du vielleicht, wo Jenny-May ist?«
    Die Frage verwirrte mich, obwohl sie doch ziemlich einfach war. Stirnrunzelnd sah ich von einem Gesicht zum anderen. Dad musterte mich besorgt, Mum nickte mir aufmunternd zu, Mrs. Butler machte den Eindruck, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen und als hinge ihr Leben von meiner Antwort ab. Vermutlich war es ja auch so.
    Als ich nicht sofort antwortete, erklärte Mrs. Butler hastig: »Die Kinder draußen haben sie den ganzen Tag nicht gesehen, deshalb dachte ich, sie ist vielleicht bei dir.«
    Urplötzlich verspürte ich den Drang, laut loszulachen. Was für eine groteske Idee, dass Jenny-May den Tag mit mir verbracht haben könnte! Aber irgendwie ahnte ich, dass diese Reaktion nicht gut angekommen wäre, und schüttelte stattdessen nur stumm den Kopf.
    So ging Mrs. Butler von einem Haus zum anderen und fragte nach ihrer Tochter. An je mehr Türen sie klopfte, desto mehr wandelte sich die Ratlosigkeit in ihrem Gesicht zu stählerner Entschlossenheit. Und dann zu Angst.
    Ich habe im Einkaufszentrum oft beobachtet, wie eine Mutter sich umdrehte und merkte, dass ihr Kind nicht da war. Solche Gesichter faszinierten mich, und ich studierte sie eindringlich, denn bei meiner Mum habe ich, soweit ich mich erinnere, einen solchen Ausdruck nie gesehen. Nicht etwa, weil sie mich nicht liebte, sondern weil ich immer so groß und auffallend war, dass sie mich gar nicht verlieren
konnte
. Manchmal versuchte ich es, nur um ihr Gesicht zu beobachten. Ich schloss schnell die Augen, drehte mich im Kreis, wählte eine Richtung und machte mich davon. Oder ich wartete, bis sie im Supermarkt in den nächsten Gang einbog. Fröstelnd stand ich dann an der Gefriertruhe und zählte bis zwanzig, damit sie weit genug weg war, aber wenn ich zurückkam, studierte sie meistens in aller Seelenruhe den Kaloriengehalt auf irgendeiner Packung und hatte meine Abwesenheit gar nicht bemerkt. Wenn ihr die Abwesenheit meiner schlaksigen, unbeholfen hinter ihr herschlurfenden Person doch einmal auffiel, dauerte es keine fünf Minuten, bis sie mich wieder ausfindig gemacht hatte. Sie brauchte sich ja nur umzuschauen, schon entdeckte sie meinen Kopf über den Kleiderständern oder sah meine übergroßen Füße unter einem Regal hervorlugen.
    Bei anderen Müttern habe ich beobachtet, wie der erste beiläufige Blick über die Schulter sich in Panik verwandelte, wie die Bewegungen hektischer wurden, wie Kopf, Augen, Gliedmaßen zuckten, bis dann der Einkaufswagen im Stich gelassen wurde, um dem Einzigen nachzujagen, was ihnen wirklich am Herzen lag. Ich erkannte die Angst, die Panik, das Grauen, den

Weitere Kostenlose Bücher