Vermiss mein nicht
Hinweise auf seinen Verbleib wegnahm?
Die Akte lag auf dem Armaturenbrett, das Handy daneben leuchtete alle paar Sekunden auf, um anzuzeigen, dass die Batterie schwach war. Wenn Sandy nicht bald auftauchte, musste Jack das Gerät irgendwie in die Finger bekommen, damit er sich die Anruferliste anschauen und – hoffentlich – jemanden aus ihrem Telefonbuch erreichen konnte, der ihm half, sie zu finden. Wenn die Batterie leer war, konnte er das Gerät ohne den Pincode nicht mehr anschalten.
Wieder klingelte sein eigenes Handy. Bestimmt war es Gloria, die ihn suchte. Es war elf Uhr nachts, aber er konnte sich nicht dazu durchringen zu antworten, denn er hätte nicht gewusst, was er ihr sagen sollte. In letzter Zeit hatte er es vermieden, mit ihr zu sprechen, weil er nicht lügen wollte. Er hatte das Haus verlassen, ehe sie wach wurde, und war heimgekommen, wenn sie schon längst schlief. Natürlich wusste er, dass sein Verhalten ziemlich schwer zu ertragen war – aber Gloria war immer so nett und geduldig, sie beschwerte sich nie, sie war ganz anders als die Partnerinnen seiner Freunde. Sie ließ ihm so viel Raum, wie er brauchte, sie hatte genug innere Sicherheit, um nicht ständig zu fürchten, dass er sie hintergehen könnte. Aber tat er das nicht, gerade jetzt, in diesem Moment? Er nutzte ihre Geduld aus, und möglicherweise trieb er sie in die Flucht. Vielleicht wollte er das ja. Vielleicht aber auch nicht. Momentan wusste er nur, dass Donals Verschwinden ihre gemeinsamen Pläne in punkto Familie und Heirat auf Eis gelegt hatte, obwohl sie ihnen beiden davor so wichtig gewesen waren. Jetzt war die Beziehung zu Gloria auf Jacks Prioritätenliste nach unten gerutscht, und er steckte seine ganze Energie in die Suche nach seinem verschwundenen Bruder. Irgendwie hatte er das Gefühl, wenn er Sandy fand, würde ihn das bei der Suche nach Donal einen Schritt weiterbringen, aber vielleicht war das alles auch nur eine Ausrede, eine Möglichkeit, den notwendigen Veränderungen und der längst fälligen Auseinandersetzung mit Gloria auszuweichen. Sie mussten dringend über ihre Beziehung reden, denn er wusste seit einiger Zeit nicht mehr, ob er sie überhaupt noch wollte.
Schließlich tat er das Einzige, was ihm in den Kopf kam: Er nahm sein Handy und rief Graham Turner an, den Polizisten, der bei der Suche nach Donal der Ansprechpartner für ihn und seine Familie gewesen war.
»Hallo?«, antwortete Grahams Stimme. Im Hintergrund hörte man Lärm, Rufe, plaudernde Stimmen und Gelächter. Pubgeräusche.
»Graham, hier ist Jack«, meldete sich Jack, und seine Stimme dröhnte durch den stillen Wald.
»Hallo?«, wiederholte Graham.
»Hier ist Jack!«, rief Jack noch lauter und erschreckte damit wahrscheinlich alle Tiere, die unter den Bäumen Zuflucht gesucht hatten.
»Moment mal, ich gehe lieber nach draußen«, rief Graham. Stimmen und Lärm wurden noch lauter, während er mit dem Handy durch den Pub ging, aber dann kehrte Stille ein. »Hallo?«, sagte Graham noch einmal, jetzt in normaler Lautstärke.
»Graham, hier ist Jack«, erwiderte er, jetzt ebenfalls mit gedämpfter Stimme. »Entschuldige, dass ich so spät noch störe.«
»Kein Problem. Ist alles in Ordnung?«, erkundigte sich der Polizist besorgt. Er war Jacks späte Anrufe gewohnt.
»Ja, alles ist soweit okay«, log er.
»Irgendwas Neues von Donal?«
»Nein, nichts. Eigentlich rufe ich aus einem anderen Grund an, Graham.«
»Und? Was gibt’s?«
Wie sollte er das bloß erklären? »Ich mach mir Sorgen um jemanden. Wir wollten uns gestern Vormittag in Glin treffen, aber er ist nicht aufgetaucht.«
Schweigen.
»Aha.«
»Er hat auf meinem AB eine Nachricht hinterlassen, bevor er in Dublin abgefahren ist, um mir mitzuteilen, dass er unterwegs ist, aber er ist nicht gekommen. Und das Auto ist unten am Estuary abgestellt.«
Schweigen.
»Ja.«
»Und jetzt mach ich mir allmählich Sorgen, verstehst du?«
»Ja, klar. Das ist unter den Umständen ja verständlich.«
Auf einmal fühlte Jack sich wie ein paranoider Irrer.
»Ich weiß, das klingt blöd, aber ich habe das Gefühl, da stimmt was nicht.«
»Ja, ja, klar«, pflichtete Graham ihm hastig bei. »Entschuldige, warte mal einen Moment.« Gedämpfte Stimmen waren zu hören, offenbar hielt er die Hand über den Hörer. »Ja, noch ein Pint Guinness. Danke, Damien, ich bin gleich wieder da, sobald ich meine Zigarette fertig geraucht habe«, sagte er, dann wurde seine Stimme wieder normal.
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