Vermiss mein nicht
Helena neugierig.
Ich schloss die Augen und stöhnte beim Gedanken an die Szene in der Registratur. »Niemand. Also, nicht niemand, sie ist schon jemand. Ich dachte, ich hätte sie in dem Raum gesehen, das ist alles.«
»Aber sie war es nicht?«
»Nur falls sie nicht mehr älter geworden ist, seit sie hier ankam. Keine Ahnung, was in mich gefahren ist.« Stirnrunzelnd griff ich wieder nach meinem schmerzenden Kopf.
In diesem Augenblick klopfte es leise an die Tür, und ein Mann erschien, so groß und breit, dass er fast den ganzen Türrahmen ausfüllte. Nur durch die wenigen winzigen Lücken, die er freiließ, fiel weißes Licht, das mir wie Feuerpfeile in die Augen stach. Der Mann war ungefähr im gleichen Alter wie Helena, mit glänzender Ebenholzhaut und durchdringenden schwarzen Augen, weit über einsneunzig, also ein ganzes Stück größer als ich. Schon aus diesem Grund war er mir auf Anhieb sympathisch. Mit seiner Präsenz dominierte er den ganzen Raum, wirkte dabei aber nicht einschüchternd, sondern vermittelte vielmehr ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit. Beim Lächeln zeigte er schneeweiße Zähne, und seine Augen nahmen die Farbe von schwarzem Kaffee an. Sein Gesicht war hart und gleichzeitig sanft, mit stolzen, hohen Wangenknochen, einem eckigen Kinn und weichen Lippen, von denen die Worte abfederten und leicht in die Welt hineinhüpften.
»Wie geht es denn unserem
Kipepeo
-Mädchen?«, fragte er mit einem deutlichen Akzent. Kenianisch, wenn ich mich nicht irrte.
Verwundert sah ich von Helena zu dem Mann, der vermutlich ihr Ehemann war. Unsere Blicke begegneten sich, und ich war von seinem ebenso fasziniert wie er anscheinend von meinem, fast so, als zöge uns ein Magnet zueinander hin. In seinen großen Händen hielt er ein Holzbrett, seine weißen Leinenklamotten waren mit Sägemehl bedeckt.
»Was bedeutet Kipepeo?«, fragte ich laut in den Raum. Der Raum schwieg, aber er schien Bescheid zu wissen.
»Sandy, das ist Joseph, mein Mann«, stellte Helena uns einander vor. »Er ist Zimmermann«, fügte sie mit Blick auf das Brett hinzu.
Meine ungewöhnliche Begegnung mit Joseph, dem Zimmermann, wurde unterbrochen von einem kleinen Mädchen, das kichernd und mit wippenden schwarzen Locken zwischen Josephs Beinen hindurch in die Küche schlüpfte. Sie rannte zu Helena und hielt sich an ihr fest.
»Und wer ist das? Die unbefleckte Empfängnis?«, fragte ich, während das Gegacker der Kleinen schmerzhaft in meinem Kopf widerhallte.
»Beinahe«, antwortete Helena lächelnd. »Sie ist die unbefleckte Empfängnis unserer Tochter. Sag Sandy guten Tag, Wanda«, sagte sie und fuhr dem Mädchen mit der Hand durch die Haare.
Ein zahnlückiges Grinsen begrüßte mich, ehe die Kleine wieder aus dem Zimmer rannte, wie vorhin die langen Beine ihres Großvaters als Tor benutzend.
Ich sah auf und begegnete erneut Josephs Blick. Er beobachtete mich immer noch, während Helena von ihm zu mir und wieder zurück zu ihm schaute, nicht argwöhnisch, sondern … ich kam nicht recht dahinter.
»Du musst schlafen«, meinte Joseph mit einem Nicken zu mir.
Unter Helenas und Josephs strengen Blicken legte ich mir das Tuch wieder übers Gesicht und erlaubte mir wegzudämmern. Ausnahmsweise war ich zu müde, um Fragen zu stellen.
* * *
»Ah, da ist sie ja!« Die Stimme meines Vaters begrüßte mich, als würde ich unvermittelt aus dem Wasser gezogen. Gedämpfte Geräusche wurden hörbar, Gesichter zeigten sich. Es war, als würde ich wiedergeboren und erblickte zum zweiten Mal die Menschen, die ich liebte, vom Krankenhausbett aus.
»Hallo, Honey«, rief meine Mutter, stürzte zu mir und ergriff meine Hand. Ihr Gesicht kam ganz nah an meines heran, so nah, dass ich es nicht mehr klar sehen konnte, ein nach Lavendel duftender verschwommener Fleck vor meinen Augen. »Wie fühlst du dich?«
Da ich noch keine Zeit gehabt hatte, mich das selbst zu fragen, konzentrierte ich mich und kam zu dem Ergebnis, dass ich mich ziemlich mies fühlte.
»Okay«, antwortete ich unverbindlich.
»Oh, mein armes Kleines!« Jetzt hatte ich hauptsächlich ihr Dekolleté vor der Nase, denn sie beugte sich über mich, die Berührung ihrer Lippen machte meine Haut klebrig, und es kitzelte. Nachdem sie sich wieder aufgerichtet hatte, schaute ich im Zimmer umher und entdeckte meinen Vater, der seine Mütze in den Händen zerknautschte und älter aussah, als ich ihn in Erinnerung hatte. Vielleicht war ich länger unter Wasser
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