Vermisst: Thriller (German Edition)
Ermordung ein zweites Mal ansehen sollte. Jesse hätte ich diese Erfahrung gern ganz erspart.
Auf der Veranda tauchten zwei winzige Gestalten auf, deren Schatten von oben gesehen doppelt so lang wirkten wie ihre Körper: Christian und Hank Sanger. Der Junge hüpfte aufgeregt herum. Offenkundig freute er sich, bei seinem Vater zu sein. In der Gasse schnüffelte ein Hund an einem Mülleimer. Ein Vogelschwarm flatterte durch das Bild, das erstaunlich scharf war, wenn man bedachte, dass es vom Weltraum aus aufgenommen war. Bäume und Häuser warfen in der Abendsonne lange Schatten.
Jesse stützte die Ellbogen auf den Schreibtisch und fixierte gebannt den Monitor.
Ein Motorroller kurvte durch die Gasse hinter Sangers Haus. Der Hund warf den Mülleimer um und fing an, den Inhalt zu durchwühlen.
Sanger zog Christian am Arm. Das war wohl der Augenblick, wo er ihn überreden wollte, essen zu gehen.
Christian breitete die Arme aus. Wie hatte er noch gesagt? Können wir nicht hierbleiben? Ich will nicht schon wieder ausgehen.
Das konnte ich gut verstehen. Vermutlich war er die meiste Zeit mit Männern aus dem Club seiner Mutter unterwegs. Worauf warteten wir eigentlich?
Jesse deutete auf den Monitor. »Da, schau.«
Auf dem Dach des Wohnblocks gegenüber von Sangers Haus hatte sich eine Tür geöffnet. Eine Gestalt mit Rucksack erschien. Ihr schwarzes Haar glänzte in der Sonne.
»Das ist …«, sagte ich.
Nachdem sie hinter der Brüstung in Deckung gegangen war, holte sie ein Zwischending zwischen Pistole und Uzi und ein Mobiltelefon heraus. Ihren Gesten entnahm ich, dass sie eine Auseinandersetzung mit der Person am anderen Ende hatte. Sie hob zwei Finger und schüttelte den Kopf. Offenbar hatte sie Christian nicht erwartet. Ohne Hank und Christian Sanger aus den Augen zu lassen, redete sie ins Telefon und schüttelte erneut den Kopf.
»Das ist Shiver«, stellte Jesse fest.
Mir hatte es die Sprache verschlagen. Shiver wurde still und nickte schließlich. Sie würde ihren Auftrag ausführen. Und ich wusste, wer die Auftraggeberin war.
Sie ließ das Telefon in ihrer Tasche verschwinden, stützte den Schaft der Waffe in ihre Armbeuge und legte den Lauf auf die Brüstung.
Auf der Veranda unten hatte sich Hank abrupt in Richtung Wohnzimmer gewandt. Christian stand wie erstarrt. Das musste der Augenblick sein, als mein Vater eintraf.
Nun trat er ins Bild. Mit der einen Hand hielt er die Waffe auf Sanger gerichtet, mit der anderen winkte er Christian, zu ihm zu kommen.
Sanger legte seine Waffe auf den Boden.
In diesem Augenblick feuerte Shiver.
Wir beobachteten, wie das Mündungsfeuer aufblitzte. Hank Sangers Kopf wurde zur Seite geschleudert, und er kippte zu Boden. Christian riss den Mund auf.
Im nächsten Moment stürzte sich mein Vater auf den Jungen und rang ihn nieder. Christian drehte völlig durch und kämpfte mit Krallen und Zähnen, um sich zu befreien.
Mein Vater versuchte, ihn zurückzuhalten. Ich wusste noch, was er gerufen hatte. Runter auf den Boden. Hände über den Kopf! Christian – verdammt noch mal! Dabei war es ihm also nur darum gegangen, den Jungen aus der Schusslinie zu holen, während er Garten und Dächer absuchte.
Shiver warf einen letzten Blick auf ihr Werk und wandte sich um. Dabei reflektierte der Lauf ihrer Waffe das Sonnenlicht.
Sofort packte mein Vater mit beiden Händen seine Pistole und feuerte auf die Lichtquelle. Christian drückte sich die Ohren zu, rappelte sich auf und rannte ins Haus, während Shiver geduckt über das Dach zur Treppe lief.
Eine Sekunde später erschien Christian auf der Veranda vor dem Schlafzimmer, kletterte über das Geländer und ließ sich auf den Rasen fallen. Immer wieder blickte er sich panisch um. Vermutlich glaubte er, mein Vater wolle ihn als einzigen Zeugen des Mordes beseitigen. Dann sprang er über die Gartenmauer und verschwand in der Gasse.
Ich starrte entsetzt auf den Bildschirm. Du darfst nicht alles glauben, was du hörst. Denk daran, wenn sich alles gegen dich wendet.
Mir wurde schwarz vor Augen. Erst ganz allmählich merkte ich, dass Jesse mich in die Arme genommen hatte. Ich vergrub das Gesicht an seiner Schulter. »Davon hast du aber nichts gewusst, oder?«
»Nein.« Seine Stimme brach. »Es muss furchtbar für dich sein, das zu sehen.«
Ich hob den Blick. »Warum bist du nach London gekommen?«
»Wegen Georgie.«
»Dad weiß, dass sie hier ist?«
»Nein. Er weiß zwar, dass Jax ihre Tochter auf ein Internat der
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