Vermisst: Thriller (German Edition)
Department?« Sie legte mir die Hand auf die Schulter. »Was ist passiert?«
Als ich ihr von meinem Vater erzählte, schlug sie sich die Hand vor den Mund. Sie kannte ihn, seit wir beide in unserem ersten Collegejahr unser gemeinsames Zimmer bewohnt hatten. Das war mittlerweile mehr als sechzehn Jahre her. Tränen stiegen ihr in die Augen. Normalerweise war Nikki resolut und durch nichts zu erschüttern, aber die erneute Schwangerschaft machte sie sensibel.
»Die Staatsanwaltschaft denkt, er ist noch am Leben?«, fragte sie.
»Und auf der Flucht.«
»So ein Unsinn. Aber Hauptsache, er lebt.«
Thea lächelte mich an, und ich griff nach ihrer kleinen Hand. Nikki warf mir einen teilnahmsvollen Blick zu, rief sich aber rasch selbst zur Ordnung.
»Wirst du was unternehmen?«, fragte sie.
»Ja.«
Sie zog eine Augenbraue hoch. Als ich knapp nickte, holte sie tief Luft.
»Grüß Jax von mir. Und pass auf dich auf.«
Als sie gegangen waren, spürte ich den alten Schmerz. Thea war ein Schatz, und ich freute mich für Nikki und Carl. Trotzdem wurde ich immer wieder an meine Fehlgeburt erinnert, wenn ich die Vincents sah.
Meine Schwangerschaft war ein Glücksfall gewesen. Ich fühlte mich, als hätte ich einen Blitz mit bloßen Händen eingefangen. Wirbelsäulenverletzungen beeinträchtigen nämlich unter anderem die Zeugungsfähigkeit. Selbst jetzt, Monate später, trauerte ich noch um den Verlust und wurde die Angst nicht los, dass wir nie wieder so viel Glück haben würden.
Auf dem Couchtisch lagen die Papiere, die Big Bud Stoker Jesse ins Gesicht geschleudert hatte. Es war ein Antrag auf Teilnahme an einem Versuchsprogramm der University of California Los Angeles. Jesse hatte die verknitterten und verschmutzten Formulare sorgfältig glatt gestrichen.
Ich ging ins Schlafzimmer und sperrte Jax’ Unterlagen in meinen Safe. Dann streifte ich meinen dicken Pullover ab und schlüpfte aus meinen Schuhen. Ich war unruhig und verwirrt. Der Mann meines Lebens gab mir Rätsel auf.
In all den Jahren seit seinem Unfall hatte ich ihn kämpfen und trauern sehen. Aber ich hatte ihn nie laut aussprechen hören, dass er wieder laufen wollte. Bis heute.
»Ja«, rief er, als ich an die Badezimmertür klopfte.
Der kleine Raum war voller Dampf. In der Dusche ließ sich Jesse das Wasser über Kopf und Schultern rinnen. Ich blieb in der Tür stehen.
Erst vor Kurzem hatte ich mein Bad renovieren lassen. Zu den Neuerungen gehörte eine riesige barrierefreie Dusche mit Sitzbank und Haltegriff. Und das für einen Neunundzwanzigjährigen, der einmal ein Sportler von Weltklasseformat gewesen war. Seit seinem Unfall wusste er nicht mehr, ob seine Füße den Boden berührten, wenn er sie nicht sah. Er hielt sein Gesicht unter den Duschstrahl und schüttelte den Kopf, dass das Wasser nur so spritzte.
Mir war schon vor einiger Zeit aufgefallen, dass mit ihm eine Veränderung vorgegangen war. Emotional war er über die Fahrerflucht hinweg, die ihn seine Bewegungsfreiheit gekostet hatte. Er litt nicht mehr unter Flashbacks und hatte seine Wut verarbeitet. Sein Beruf, die Tätigkeit als Trainer und als Betreuer anderer Unfallopfer waren für ihn kein Mittel gegen die Verzweiflung: Er hatte wirklich Spaß daran. Der Albtraum war besiegt.
Ich schloss die Tür hinter mir und setzte mich in den Rollstuhl. Dampfschwaden umhüllten mich. »Stoker will, dass sein Sohn an einer klinischen Studie teilnimmt?«
»Stoker hat einen Tritt in den Hintern verdient. Buddy ist noch nicht kräftig genug und erfüllt nicht mal die medizinischen Kriterien. Die suchen Leute mit einer inkompletten Schädigung, die mindestens zwei Jahre zurückliegt.«
»Du hast den Antrag behalten.«
Er griff sich die Seife und fuhr sich damit über die Brust. »Stimmt.«
»Willst du dich bewerben?«
Er hielt den Kopf unter den Wasserstrahl.
»Blackburn? So leicht lasse ich mich nicht abspeisen. Du musst schon mit mir reden.«
Als ich seinem Blick begegnete, durchfuhr es mich wie ein elektrischer Schlag.
Jesse besaß lange Beine und die breiten Schultern eines Schwimmers. Sein gebräunter Körper war schlank und muskulös. In den letzten Monaten hatte er hart an sich gearbeitet. Zum ersten Mal fiel mir auf, wie sehr er sich auch körperlich verändert hatte.
Mit angehaltenem Atem beobachtete ich, wie das Wasser auf den Muskeln von Rücken und Armen schimmerte.
Die Andeutung eines Lächelns spielte um seine Lippen, und ich konnte keine Spur von Trauer mehr darin
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