Vermisst: Thriller (German Edition)
entdecken. Kein Bedauern, keine Sehnsucht, keine Sorge – außer um mich.
Wann war er für mich selbstverständlich geworden?
Allzu lange hatte ich nur beobachtet, wie er mit sich selbst und seinen Dämonen rang und mit einer Welt, für die er nicht mehr existierte. Irgendwie war mir entgangen, dass er über seine Narben gesiegt hatte.
Er stieß die Tür der Dusche auf, fasste den Haltegriff und zog sich hoch. Dann streckte er die Hand nach mir aus.
»Komm her.«
Mit festem Griff zog er mich auf die Füße und zu sich in die Dusche.
Das heiße Wasser durchtränkte mein Hemdchen, als er mich an sich zog und seine Lippen auf die meinen drückte. Ich legte die Hände an sein Gesicht und erwiderte seinen Kuss. Die Jeans klebten an meiner Haut, und mein Herz pochte wie wild.
»Fakt Nummer zwei«, flüsterte er ganz dicht an meinem Mund. »Denk nicht nach. Lass einfach los.«
»Dich lasse ich bestimmt nicht los.«
Seine Haut war warm. Ich schlang die Arme um seinen Rücken, schloss die Augen und küsste ihn erneut. Dann legte ich den Kopf in den Nacken, sodass das Wasser über mein Gesicht strömte. Er küsste meinen Hals. Mit der freien Hand packte er meinen Hintern und presste mich an sich. Als ich seine saugenden Lippen auf meiner Haut spürte, versuchte ich zu sprechen, aber das Verlangen nach ihm überwältigte mich. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und hielt mich am Duschkopf fest, während sein Mund immer tiefer wanderte. Mir blieb noch nicht einmal Zeit, mein nasses Hemdchen auszuziehen, bevor sich seine Lippen um meine Brust unter dem dünnen Stoff schlossen.
Eigentlich habe ich für Wasserspiele nicht viel übrig, aber diese Variante war gar nicht übel.
Später hockte ich mit angezogenen Knien auf meinem Bett und sah den Wolken zu, die vor dem Fenster vorüberzogen. Jesse hatte sich im Schneidersitz neben mir niedergelassen. Er trug Jeans, war aber barfuß. Die Wolken rissen auf, und für einen Augenblick funkelte der Himmel kobaltblau. Wieder dachte ich an das Baby, das wir verloren hatten, an den nur allzu schnell erloschenen Funken der Schöpfung. Unwiderruflich verloren.
Ich sah Jesse an. »Und, wirst du’s machen?«
Seine Augen strahlten fast so blau wie der Himmel. »Hältst du das für eine Sackgasse?«
Eine Sackgasse, in der er sich seine Narben vielleicht erneut aufschürfte. »Wie läuft diese Studie ab?«
»Vor allem trainiert man Gehen. Intensive Krankengymnastik. Gehübungen in einem Geschirr, das einem das Eigengewicht abnimmt. Es geht darum, rauszufinden, welche Restbeweglichkeit noch vorhanden ist, und diese voll zu nutzen.«
Ich erwiderte seinen Blick. Mein Gott, wie ich mich danach sehnte, das Ganze ungeschehen machen zu können. Wäre er doch an jenem Tag nicht aufs Motorrad gestiegen. Warum hatte er nicht Überstunden gemacht oder war laufen gegangen? Dann hätte er nie lernen müssen, einen Rollstuhl zu fahren.
»Wenn du nur …«
Ich unterbrach mich selbst. Fakt Nummer drei: Die Frage Was wäre, wenn führte unweigerlich in den Wahnsinn.
»Ev, ich steh schon lange mit dem Rücken zur Wand. Aber vielleicht kann ich die Mauer einreißen.«
»Ich kann nur hoffen, dass das nichts mit diesem Stoker oder den Polizisten von letzter Nacht zu tun hat.«
»Von solchen Leuten lass ich mich doch nicht provozieren. Wenn mich meine Behinderung was gelehrt hat, dann Geduld und Demut.«
Ich warf ihm einen vielsagenden Blick zu.
»Okay, vergessen wir das mit der Demut«, räumte er ein.
»Aber Geduld hab ich ja wohl jede Menge.«
Das war eine Anspielung darauf, dass ich mich immer noch nicht auf einen Hochzeitstermin festlegen wollte. Ich tat so, als wollte ich ihn mit einem Tritt aus dem Bett befördern. »Jetzt beeil dich. Du bist spät dran.«
Er stand auf. »Und Dankbarkeit. Ich bin ein dankbarer Mensch.«
Ich erhob mich ebenfalls, denn ich wollte noch mal unter die Dusche. Er schlüpfte in sein Hemd, warf einen Blick auf die Uhr und beschleunigte sein Tempo. Dann nahm er verschiedene Dokumente aus seiner Mappe.
»Mist, ich habe meine Notizen zu Hause vergessen. Die muss ich noch holen.«
Als ich an ihm vorbeiging, griff er nach meiner Hand.
»Weißt du, ich bin wirklich dankbar. Für sehr vieles.«
»Aber das ist dir nicht genug.«
»Ich will eben rausfinden, ob nicht doch mehr möglich ist. Wenn ich mich nicht darauf einlasse, werde ich es nie erfahren. Falls es daneben geht, muss ich mich damit abfinden – Abschiede gehören zum Leben.« Er unterbrach sich,
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