Vermisst: Thriller (German Edition)
dann?«
Als ich sein angespanntes, aber beherrschtes Gesicht sah, hätte ich ihn am liebsten in die Arme geschlossen.
»Zunächst mal habe ich die Telefonnummern von Boyd Davies überprüft, die du mir gemailt hast. Mit dem Mann hat tatsächlich was nicht gestimmt. Er war nicht von Immigrations and Customs Enforcement.«
»Aber wenn er nicht von der Einwanderungsbehörde war, wer war er dann?«
»Inhaber der Davies Bail Enforcement Agency in Las Vegas, Nevada. Ein Kopfgeldjäger.«
Shiver entfernte ihren Dietrich aus der Tür zur Telefon- und Computerzentrale im Keller des Hotels und schloss die Tür hinter sich. Der Router, über den die Internetverbindungen des Hotels liefen, war leicht zu finden. Zu dieser späten Stunde waren nur wenige Gäste eingeloggt. Sie steckte ihren Pocket-PC ein. Einen Versuch war es wert. Falls die Zielpersonen online waren und ihre Kommunikation nicht verschlüsselten, konnte sie ihre Displays über den von ihr installierten Port Mirror auf ihrem eigenen Monitor abbilden.
Ihr Handy klingelte. Es war Bliss.
»Ich hab sie. Zimmer eintausendzweihunderteinunddreißig, im Krung-Thep-Flügel.«
»Verstanden.«
»Drinnen redet jemand. Klink dich ein. Vielleicht telefonieren sie oder sind online.«
Sie hatte Glück. Die Telefonleitung war frei, aber das Internetportal zeigte, dass jemand im Zimmer online war. Sie stöpselte ihren PC am Router-Port ein und beugte sich vor. Noch besser: ein Online-Chat. Der Mann auf dem Bildschirm wirkte verschlafen, aber entschlossen. Die selbstbewusste Stimme und die kühle Intelligenz in seinen grauen Augen gefielen ihr. Den hätte sie auch nicht von der Bettkante gestoßen.
»Ein Kopfgeldjäger?«, sagte ich.
»Boyd Davies hatte sich auf das Einfangen von Flüchtigen spezialisiert. Er war nie Bundesagent.«
»Ein Kopfgeldjäger! Ich fass es nicht.« Ich blickte auf den Fluss hinaus, während ich versuchte, die Neuigkeit zu verarbeiten. »Dann hat er Dad für die Sangers aufgespürt und gekidnappt.«
»Das vermute ich stark. Und als Phil nicht hatte, wonach er suchte, wollte er sich an dich halten.«
»Wissen die Behörden Bescheid?«
»Ja. Aufgrund dieser Informationen und des Lösegeldfotos von deinem Vater hat Lily Rodriguez Ermittlungen eingeleitet. Sie geht inzwischen von einer Entführung aus.«
»Endlich.« Es war die erste gute Nachricht, seit dieses ganze Desaster angefangen hatte. »Lily wird die Sache schon aufklären.«
»Aber das hilft dir nicht. Du wirst wegen Mordes und unerlaubten Entfernens vom Ort eines Verbrechens gesucht. Ich habe mit Drew Farelli gesprochen. Die Behörden müssen den Vorwurf des Mordes an einem Bundesbeamten fallen lassen, aber du bist noch längst nicht aus dem Schneider.«
Eigentlich keine Überraschung. Ich nickte, aber mir sank der Mut.
»Nicholas Gray gibt keine Ruhe, was?«, fragte ich.
»Nein, er ist auf dem Kriegspfad. Er denkt immer noch, du und dein Vater, ihr hättet Dreck am Stecken.«
Er senkte den Blick, als lastete irgendein Gedanke auf ihm.
»Jesse, was ist los? Dich bedrückt doch irgendwas.«
»Stimmt.« Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »Ich will, dass du dich stellst.«
Mich stellen? »Nein.«
»Delaney, jetzt hör mir gut zu.«
»Nein.« Ein eiskalter Schauer überlief mich. »Das wäre Dads Todesurteil.« Ich schüttelte den Kopf. »Was denkst du dir dabei?«
»Dazu wollte ich dir schon in L.A. raten. Du musst die Unterlagen vernichten.«
»Und ich wollte dich schon in L.A. fragen, warum. Weißt du mehr als ich? Was hat mein Vater dir auf Band gesprochen?«
»Das kann ich dir nicht sagen.«
»Du kannst nicht?«
»Bitte vertrau mir. Was auch geschehen mag, ich habe gute Gründe.«
Schweigend betrachtete ich sein Gesicht. Natürlich vertraute ich ihm, aber die stumme Bitte in seinen Augen ließ mich das Schlimmste vermuten.
»Bitte, Ev …« Er runzelte die Stirn. »Was – hinter dir hat sich jemand bewegt. Bist du nicht allein?«
»Das ist Jax.«
Seine Augen weiteten sich. »Verdammt noch mal, was macht die denn da?«
»Sie hilft mir.«
Nun blieb ihm der Mund offen stehen. Sein Blick wanderte über meine Schulter hinweg.
»Was hat sie dir erzählt?«
»Was soll das denn heißen? Was willst du …« Mein Unbehagen wuchs. Ich kam mir tatsächlich vor wie auf der schmalen Brücke, von der der Mönch gesprochen hatte, und sie wankte bereits. »Blackburn, was ist los?«
Er stützte sich auf die Ellbogen und presste die aneinandergelegten Hände
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